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Forscher wollen Neuropathien frühzeitig erkennen: Das Auge als Fenster zum Nervensystem?

Nervenschäden lassen sich in den Augen besonders gut erkennen. | Bild: Liudmila Dutko / Adobe Stock

Nervenschädigungen entstehen durch eine Schädigung und Rückbildung der Nervenfasern im peripheren oder zentralen Nervensystem. Die ersten Symptome (Kribbeln, „Ameisenlaufen“) werden oft in den letzten Spitzen des Nervensystems – nämlich in den Füßen und Händen – bemerkt. Werden diese Symptome vom Patienten wahrgenommen, ist oft schon eine irreversible Schädigung der Nerven eingetreten.

Untersuchungsgegenstand Auge

Nervenschäden lassen sich in den Augen besonders gut erkennen, da die Hornhaut (Cornea) mit winzigen, ganz fein verzweigten Nerven besonders dicht besiedelt ist. Ein Forscherteam am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME macht sich diese Feinheit und Vielzahl an Nerven zunutze, indem sie Hornhaut und Tränenflüssigkeit des Auges untersuchen. Denn die feinsten Nervenfasern im Körper, eben in den Augen, aber auch in den Fuß- und Fingerspitzen, sind zuerst vom Rückgang betroffen.

Die Folgeerscheinungen gehen für die Patienten oft mit einer erheblichen Einschränkung im Alltag einher. Es kann zu Missempfindungen, Geh- und Sehstörungen und übersteigerten oder mangelnden Reizwahrnehmungen in der jeweiligen Region kommen, was normale Alltagsaufgaben zu Hürden macht. Dieser Untergang von funktionierenden Nervenfasern trifft oftmals Diabetiker, kann aber auch als Folge von Chemotherapien, Dialysen, Infektionen, übermäßigem Alkoholkonsum oder bei Autoimmunerkrankungen auftreten. Eben durch alles, was die Nerven schädigt.

Nervenfaserschädigung bislang nur schwer einschätzbar

Kann man die Erkrankung behandeln? Medikamente gegen Neuropathien sind verfügbar, haben aber oft gravierende Nebenwirkungen. Eingesetzt werden z. B. Vitamine der B-Gruppe, alpha-Liponsäure, Antikonvulsiva (Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin) oder Antidepressiva (Amitriptylin), die die Schmerzwahrnehmung verändern sollen oder Opiode bei stärkeren Nervenschmerzen.

Allesamt wirken sie am besten, wenn der Krankheitsverlauf noch nicht fortgeschritten ist, also in einem frühen Stadium. Je größer die Nervenschädigung, desto schwieriger und wirkungsloser sind die Therapiemöglichkeiten. Eine Frühdiagnose ist daher extrem wichtig – das Problem: Bisherige Verfahren zur Untersuchung, z. B. die Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit, eignen sich nur bedingt, um eine klare Diagnose zu liefern. Denn bei einer langsamen Reizübertragung können nicht nur Neuropathien, sondern auch andere Auslöser infrage kommen.

Eine weiteres diagnostisches Verfahren, nämlich die Stanzbiopsie, bei der der Arzt Gewebe aus der Haut entnimmt und untersucht, liefert möglicherweise keine Ergebnisse, die sich auf das komplette Nervensystem übertragen lassen – die Hautstelle ist also nicht repräsentativ und die Untersuchung zusätzlich noch mit Schmerzen für den Patienten verbunden.

Hornhaut als repräsentatives Bild des peripheren Nervensystems

Ein Verfahren, das frühzeitig grundlegende Aussagen über den Zustand des Nervenkostüms eines Risikopatienten treffen kann, wird daher dringend benötigt. Umso entscheidender ist der neue, innovative Ansatz der Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer IME in Frankfurt: „Die Nervenfaserdichte ist in der Cornea am höchsten. Die Hornhaut gibt ein repräsentatives Bild des peripheren Nervensystems wieder“, sagt PD Dr. Marco Sisignano, Wissenschaftler am Fraunhofer IME.

Die Cornea wird dabei mikroskopisch auf Nervenfaserdichte und -länge, aber auch auf den Grad der Verzweigung zwischen den Nervenfasern untersucht. Sind die Nervenstränge stark verkürzt, verkümmert oder wenig verzweigt, droht möglicherweise eine neuropathische Erkrankung, die erkannt werden kann, noch bevor der Patient Beschwerden feststellen kann.

Die Tränenflüssigkeit im Fokus

Nicht nur die Hornhaut des Auges, sondern auch die Tränenflüssigkeit spielt für die Forscherinnen und Forscher eine wichtige Rolle. Sie untersuchen auch den Tränenfilm von Risikopatienten, denn auch er kann Aussagen über Neuropathien liefern. „Die Cornea ist nicht durchblutet, sie ist jedoch von Tränenflüssigkeit umgeben. Wenn man also eine Rückbildung der Nervenfasern erkennen kann, muss sich etwas in der Tränenflüssigkeit befinden, das die Verkürzung bewirkt. Daher fokussieren wir uns auf den Tränenfilm und entnehmen diesen von Patienten mit Papierstreifen oder saugen ihn mit einer Kapillare auf und geben ihn für weitere Analysen in ein Probengefäß“, erläutert Dr. Sisignano vom Frauenhofer IME.

Mit einer speziellen und optimierten Form der Massenspektrometrie werden die verschiedenen Stoffe in der Flüssigkeit aufgetrennt und deren Konzentration bestimmt. Besondere Beachtung finden dabei Lipide, also die Fettbestandteile im Flüssigkeitsfilm. Sind der Lipidwert hoch und die Nervenfasern mikroskopisch als zurückgebildet erkennbar, lässt das auf eine beginnende Nervenerkrankung schließen.

Diagnose als Entscheidungshilfe

Derzeit werden 250 Patienten mit verschiedensten Neuropathien von den Projektpartnern untersucht. Nach Überprüfung der Sensorik der Patienten, Mikroskopie der Cornea und Testung des Tränenfilms werden die Ergebnisse gebündelt ausgewertet. Ziel dabei ist es, für verschiedene Patientengruppen mögliche Biomarker (charakteristische biologische Merkmale) ableiten zu können, die Aufschluss geben, ob und wie stark Neuropathien auftreten könnten. „Letztendlich wollen wir dem Arzt eine Entscheidungshilfe an die Hand geben, ob und wann er eine Therapie beginnen soll“, so das Forscherteam.