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Eine Kapsel gegen Erdnussallergie

Nun steht die erste Behandlungsoption für Erdnussallergiker auch in der EU zur Verfügung: Die Europäische Kommission erteilte Palforzia® am 17. Dezember die Zulassung und folgte damit der Empfehlung des Humanarzneimittelausschusses zwei Monate zuvor. Zulassungsinhaber ist Aimmune, eine Tochter der Nestlé-Pharmasparte Nestlé Health Science. In den Vereinigten Staaten können Erdnussallergiker bereits seit einem knappen Jahr mit dem erdnussproteinhaltigen Arzneimittel therapiert werden, die FDA erteilte Palforzia am 31. Januar 2020 die Zulassung.

Eingesetzt werden darf Palforzia® bei Kindern im Alter zwischen vier und 17 Jahren mit diagnostizierter Erdnussallergie. Die Anwendung von Palforzia® kann jedoch bei Patienten, die 18 Jahre und älter sind, fortgeführt werden. Palforzia® bringt allerdings keinen Freifahrtschein für Erdnussbutter und Peanut-Cookies: „Die Anwendung von Palforzia® hat in Verbindung mit einer erdnussfreien Ernährung zu erfolgen“, lautet die Bedingung zur Indikation in den Produktinformationen zu Palforzia®.

Gut zu wissen: Wie häufig sind Erdnussallergien?

Der World Allergy Organization im Jahr 2017 zufolge hat sich die Prävalenz von Erdnussallergien in Nordamerika, dem Vereinigten Königreich und Australien in zehn Jahren verdoppelt. Dort seien 1,8 Prozent (Nordamerika), 1,4 Prozent (UK) und 3 Prozent (Australien) der Kinder von Erdnussallergien betroffen. Laut Aimmune hat sich auch in Europa die Prävalenz bei Kindern zwischen 2005 und 2015 verdoppelt, die Häufigkeit von Krankenhauseinweisungen aufgrund schwerer allergischer Reaktionen habe sich versiebenfacht. Man schätzt, dass etwa 1,6 Prozent der europäischen Kinder mit einer Erdnussallergie leben.

Wie wirkt Palforzia®?

Palforzia® gibt es in sechs unterschiedlichen Dosierungen: Der eigentliche Wirkstoff ist entfettetes Erdnussproteinpulver aus Arachis hypogaea L. (Samen), das in steigender Menge (0,5 mg, 1 mg, 10 mg, 20 mg, 100 mg, 300 mg) in Kapseln oder im Beutel (300 mg) enthalten ist.

Das Prinzip der Behandlung ist eine Desensibilisierung, eine orale Immuntherapie: Allergiker werden steigenden Dosen des Allergens ausgesetzt, wodurch die Toleranz gegenüber Erdnüssen erhöht werden soll. 0,5 mg Erdnussproteinpulver entsprechen 1/600stel einer Erdnuss, somit entspricht die Erhaltungsdosis mit 300 mg Palforzia® einer Erdnuss.

Drei Phasen: initiale Aufdosierung, Dosissteigerung, Erhaltung

Die Behandlung mit Palforzia® erfolgt in drei aufeinanderfolgenden Phasen: initiale Aufdosierung, Dosissteigerung und Dosiserhaltung. Sowohl die initiale Aufdosierung wie auch jede Dosiserhöhung müssen ärztlich überwacht werden. Zudem sollte in einer Dosierstufe die initial ärztlich verabreichte neue Dosis und die zuhause dann eingenommenen Kapseln von derselben Charge sein, um Dosisschwankungen zu verhindern.

In der initialen Aufdosierungsphase nehmen die Allergiker an einem einzigen Tag und in jeweils 20- bis 30-minütigem Abstand 0,5 mg, 1 mg, 1,5 mg, 3 mg und 6 mg Palforzia® ein. Wird die initiale Aufdosierung toleriert, startet vorzugsweise am darauffolgenden Tag die Phase der Dosissteigerung mit 3 mg Erdnussproteinpulver. Insgesamt gilt es elf Stufen zu meistern, beginnend mit 3 mg täglich Palforzia® für zwei Wochen. Bei Toleranz schließt sich eine Tagesgesamtdosis von 6 mg an, dann von 12 mg, 20 mg, 40 mg, 80 mg, 120 mg, 160 mg, 200 mg, 240 mg und 300 mg.

Jede Dosisstufe dauert zwei Wochen. Sollte eine Stärke nicht vertragen werden, gilt es ärztlich individuell zu entscheiden, ob die Dosisstufe über mehr als zwei Wochen fortgeführt oder die Dosis reduziert wird bzw. ob ein Aussetzen das Beste für den Patient ist. Werden auch 300 mg toleriert, beginnt die Erhaltungsphase mit 300 mg täglich.

Ohne Kapselhülle einnehmen

Der Zulassungsinhaber weist in den Produktinformationen explizit darauf hin, dass die Kapsel geöffnet und das Pulver ohne Kapsel eingenommen werden muss: „Die Kapselhüllen dürfen nicht eingenommen werden. Das Einatmen des Pulvers muss vermieden werden.“ Aimmune rät, das Erdnussproteinpulver „auf einige wenige Löffel voll halbfester/cremig/breiiger Nahrungsmittel (z. B. Fruchtmus, Joghurt, Milchreis), gekühlt oder mit Raumtemperatur“ zu entleeren und gut zu vermischen und die Dosen immer zur gleichen Zeit einzunehmen.

Zwei Phase-3-Studien belegen Wirksamkeit

Den positiven Nutzen von Palforzia® bei Erdnussallergikern hat Aimmune in zwei klinischen Phase-3-Studien (ARTEMIS und PALISADE) belegt. Beide Studien waren randomisiert, doppelblind und placebokontrolliert. Die Teilnehmer waren Erdnussallergiker, wurden jedoch ausgeschlossen, wenn sie innerhalb der letzten 60 Tage vor Studienstart eine schwere bis lebensbedrohliche Anaphylaxie hatten oder an schwerem bis unkontrolliertem Asthma litten. Vor Beginn der Studie und an deren Ende wurden die Teilnehmer einer doppelblinden, placebokontrollierten Nahrungsmittelprovokation (DBPCFC) unterzogen. Studienteilnehmer in PALISADE vertrugen zu Beginn weniger als ≤ 100 mg Erdnussprotein, in ARTEMIS weniger als ≤ 300 mg Erdnussprotein.

Studien unterschieden sich im Zeitraum der Erhaltungsdosis

Nach der initialen Aufdosierung begann die Dosissteigerung bei 3 mg Palforzia®, die je nach Verträglichkeit 20 bis 40 Wochen dauerte (300 mg). Bei PALISADE (499 Teilnehmer im Alter von 4 bis 55 Jahren randomisiert, 374 erhielten Palforzia®, 125 Placebo) erhielten die Probanden sodann für sechs Monate eine Erhaltungstherapie mit 300 mg (oder Placebo). Bei ARTEMIS (175 Teilnehmer:innen im Alter von 4 bis 55 Jahren randomisiert, 132 erhielten Palforzia®, 43 Placebo) nahmen die Probanden ihre Erhaltungsdosis im Rahmen der Studie über drei Monate ein. 

Primärer Endpunkt: 1.000 mg Erdnussprotein müssen toleriert werden

In beiden Studien war der primäre Endpunkt der Anteil der Studienteilnehmer im Alter von 4 bis 17 Jahren, die bei der Abschluss-DBPCFC eine einzelne Höchstdosis von mindestens 1.000 mg Erdnussprotein tolerierten und dabei höchstens leichte allergische Symptome zeigten (Desensibilisierungs-Ansprechrate). Als wichtige sekundäre Endpunkte waren die Desensibilisierungs-Ansprechraten nach Einzeldosen von 300 mg und 600 mg Erdnussprotein definiert.

In PALISADE tolerierten 50,3 Prozent der Erdnussallergiker unter Palforzia® und 2,4 Prozent unter Placebo am Ende 1.000 mg Erdnussprotein. In ARTEMIS vertrugen 58,3 Prozent der Palforzia®-Teilnehmer und 2,3 Prozent der Placebopatienten eine Erdnussproteindosis von 1.000 mg. Auch 600 mg und 300 mg Erdnussprotein (sekundäre Endpunkte) wurden unter Palforzia® besser toleriert als unter Placebo: 600 mg Erdnussprotein vertrugen 67,2 Prozent nach Palforzia® und 4,0 Prozent nach Placebo (PALISADE) und 68,2 Prozent nach Palforzia® vs. 9,3 Prozent nach Placebo (ARTEMIS). 300 mg Erdnussprotein vertrugen 76 Prozent nach Palforzia® vs. 8,1 Prozent nach Placebo (PALISADE) und 73,5 Prozent nach Palforzia® vs. 16,3 Prozent nach Placebo (ARTEMIS).

Anhaltende Wirksamkeit

Anhand der Studiendaten lässt sich auch eine anhaltende Wirksamkeit nach sechs, zwölf oder 18 Monaten Erhaltungstherapie (300 mg Palforzia®) ableiten: Nach sechs Monaten tolerierten 63,2 Prozent 1.000 mg Erdnussprotein (PALISADE), nach zwölf bzw. 18 Monaten Erhaltung vertrugen 79,8 Prozent bzw. 96,2 Prozent eine entsprechende Provokationsdosis (ARTEMIS). Somit scheint eine andauernde Therapie mit Palforzia® die Erdnussverträglichkeit weiter zu erhöhen.

Palforzia®-Verordnung nur mit Adrenalin-Pen

Palforzia® setzt die Erdnussallergiker ihrem Allergen aus, Überempfindlichkeitsreaktionen sind somit zu erwarten. Daher muss Patienten, die Palforzia® erhalten, Adrenalin zur Selbstinjektion verordnet werden. Zudem müssen die Patienten mit dem richtigen Umgang des Auto-Injektors sowie mit ersten Anzeichen einer allergischen Reaktion vertraut sein. Die obligatorische Verordnung eines Adrenalin-Pens dient als Vorsichtsmaßnahme, falls es zu allergischen Reaktionen kommen sollte.

Aimmune zufolge treten allergische Reaktionen zumeist in den ersten zwei Stunden nach Einnahme der Dosis auf und sind gewöhnlich leicht oder mäßig ausgeprägt, es können jedoch auch schwerere Reaktionen auftreten. Vor allem Patienten im Alter ab zwölf Jahren und/oder hoher Empfindlichkeit gegenüber Erdnüssen hätten möglicherweise ein höheres Risiko, während der Behandlung allergische Symptome zu entwickeln.

Welche Nebenwirkungen können unter Palforzia® auftreten?

Zu den häufigsten Nebenwirkungen (unabhängig vom Schweregrad), die unter der Therapie beobachtet wurden, zählen Bauchschmerzen (49,4 Prozent) und Rachenreizung (40,7 Prozent). Über Juckreiz und Übelkeit berichtete ein Drittel der Patienten, etwas seltener über Erbrechen und Nesselsucht (je 28,5 Prozent). Während der Dosissteigerung traten mehr Nebenwirkungen auf (85,7 Prozent) als während der Phasen der initialen Aufdosierung (45,1 Prozent) und der Erhaltung (57,7 Prozent). Im Median dauerte es vier bis acht Minuten, bis erste Symptome auftraten, sie verschwanden im Median nach 15 bis 30 Minuten.

Kinder vertragen Immuntherapie besser als Jugendliche

15,1 Prozent der Studienteilnehmer erlitten systemische allergische Reaktionen, meist von leichter bis mäßiger Ausprägung. Eine Anaphylaxie wurde bei 1,1 Prozent der Probanden beobachtet. Die Daten deuten darauf hin, dass Kinder die Immuntherapie besser vertragen als Jugendliche, sie hatten deutlich seltener systemische allergische Reaktionen (11,9 Prozent bei Kindern ≤ 11 Jahre, 21,9 Prozent bei Jugendlichen). Insgesamt brachen 10,5 Prozent der Teilnehmer die Studie aufgrund von Nebenwirkungen ab, in 1,6 Prozent der Fälle führten systemische allergische Reaktionen zum Abbruch der Behandlung.

Markteinführung im Mai 2021

Obwohl die Zulassung auf Kinder und Jugendliche im Alter zwischen vier und 17 Jahren begrenzt ist, darf die Behandlung auch bei über 18-Jährigen fortgeführt werden. Denn die Studie schloss Teilnehmeren ein, die während der Behandlung 18 Jahre alt wurden. Sie sprachen in gleichem Maß wie die jüngeren Studienteilnehmer auf Palforzia® an.

Eigenen Angaben zufolge will Aimmune Palforzia® im Mai 2021 in Deutschland auf den Markt bringen.