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Krieg in der Ukraine – Belagerung von Tschernobyl: Nachfrage nach Jodidtabletten und Lugolscher Lösung steigt

Der havarierte Reaktor in Tschernobyl ist von einer Stahlhülle umgeben, die vor dem Austritt radioaktiver Strahlung schützt. | Bild: IMAGO / Zuma Wire

Wie PTAheute aus polnischen Apotheken erfuhr, ist dort die Nachfrage nach der sogenannten Lugolschen Lösung, einer hochkonzentrierten Jodlösung, seit heute Morgen sehr hoch. 

Was steckt hinter der großen Nachfrage?

Polen war schon nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im Jahr 1986 vom Durchzug der radioaktiven Wolke besonders betroffen. Damals wurde beschlossen, nicht radioaktives Jod – insbesondere an Kinder – zu verteilen, um einer Erkrankung an Schilddrüsenkrebs vorzubeugen. 10,5 Millionen Kinder und 7 Millionen Erwachsene wurden nach der Katastrophe mit Jod behandelt. 

Die positive Wirkung der sogenannten „Jodblockade“ wurde durch Nachuntersuchungen bestätigt. Bei den behandelten Personen gab es keinen Anstieg der Schilddrüsenkrebshäufigkeit. 

In Weißrussland hingegen – wo keine Jodblockade durchgeführt wurde – ist nach der Tschernobyl-Katastrophe der Schilddrüsenkrebs bei Kindern, der sonst sehr selten vorkommt, hundertmal häufiger aufgetreten. 

Nachdem das russische Militär am späten Abend des 24. Februar 2022 die Kontrolle über den stillgelegten Atomreaktor übernommen hat, steigt die Angst im Nachbarland Polen, es könnte erneut radioaktive Strahlung freigesetzt werden. Die Bevölkerung versucht nun, sich entsprechend zu schützen.

Hintergrund: Die Bedeutung des Atomkraftwerks von Tschernobyl

Das russische Militär hat nach ukrainischen Angaben die Kontrolle über den zerstörten Atomreaktor von Tschernobyl (AKW) übernommen. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sagt, Russland kontrolliere die sogenannte Sperrzone und alle Anlagen der Atomruine. 

Russische Soldaten hätten das Gebiet um das AKW im Norden der Ukraine nach „erbitterten“ Kämpfen eingenommen, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak. Der Unglücksreaktor könne daher nicht mehr als sicher angesehen werden, es handele sich um „eine der ernstesten Bedrohungen für Europa“. 

Das 1986 havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl liegt knapp 70 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew – und nur etwa zehn Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt. Dort hat Russland Truppen stationiert. 

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte davor gewarnt, dass in der Ukraine angeblich Atomwaffen hergestellt werden könnten. „Wir wissen, dass es bereits Berichte gab, die Ukraine wolle ihre eigenen Atomwaffen herstellen. Das ist keine leere Prahlerei“, sagte der Kremlchef etwa am vergangenen Montag in einer Fernsehansprache. „Die Ukraine verfügt tatsächlich immer noch über sowjetische Nukleartechnologien und Trägersysteme für solche Waffen.“

Das Unglück von Tschernobyl am 26. April 1986 gilt als die größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Atomkraft. Hunderttausende Menschen wurden zwangsumgesiedelt. Damals gehörte die Ukraine noch zur Sowjetunion. 
Im vergangenen Sommer war ein neues Atommüllzwischenlager in der radioaktiv verseuchten Sperrzone um Tschernobyl eingeweiht worden. Mit dem Lager wollte Kiew seine Abhängigkeit von Russland im Atommüllbereich beenden. Im Zuge des 2017 begonnenen Baus wurden etwa 43 Kilometer Eisenbahnstrecke im radioaktiv belasteten 30-Kilometer-Sperrgebiet instand gesetzt. Quelle: ntv.de, hny/jwu/AFP/dpa   

Wie funktioniert eine Jodblockade?

Beim Betrieb von Kernreaktoren entstehen verschiedene radioaktive Isotope von Jod, die wegen der dort herrschenden Temperaturen im gasförmigen Zustand vorliegen. Bei einem Unfall kann unter Umständen radioaktives Jod freigesetzt werden. Es schlägt sich auf Boden und Pflanzen nieder und kann mit Nahrungsmitteln, insbesondere Milch, in den menschlichen Körper gelangen. Auch über die Atemluft kann Jod aufgenommen und in den Lungen resorbiert werden. 

Nach der Aufnahme über die Lunge oder die Resorption im Magen-Darm-Trakt wird das Jod im Blutplasma transportiert und vorübergehend in den Speicheldrüsen und in der Magenschleimhaut angereichert. Hauptsächlich wird das Jod von der Schilddrüse mittels des sogenannten Natrium-Jod-Symporters (NIS) aufgenommen und dort länger gespeichert (biologische Halbwertszeit etwa 80 Tage). 

Die Aufnahme und Speicherung hängt vom Funktionszustand der Schilddrüse ab – bei normaler Schilddrüsenfunktion insbesondere vom Jodangebot in der Nahrung. Die Speicherung von radioaktivem Jod in der Schilddrüse kann effektiv verhindert werden, wenn kurz vor oder nach dessen Aufnahme eine größere Menge von stabilem (nicht radioaktivem) Jod in hohen Einzeldosen eingenommen wird (etwa das 100- bis 1.000-fache der normalen täglichen Zufuhr mit der Nahrung, altersabhängig zwischen 12,5 mg und 100 mg Jod). 

Die hierdurch erzielbare „Jodblockade“ der Schilddrüse wird nach heutigen Erkenntnissen durch eine massive Erhöhung der Jod-Plasmaspiegel erreicht, die über einen noch nicht geklärten Mechanismus zu einem stark verminderten Transport des radioaktiven Jods über den NIS in die Schilddrüsenzelle führt. 

Das noch im Blutplasma zirkulierende, nicht in der Schilddrüse gespeicherte Jod wird über die Nieren rasch mit einer biologischen Halbwertszeit von einigen Stunden ausgeschieden. Damit nimmt die Wirksamkeit der Jodblockade rasch ab, was bei wiederholter oder länger anhaltender Freisetzung von radioaktivem Jod berücksichtigt werden muss.

Wieso braucht man diese Jodblockade?

Wenn es – zum Beispiel in Folge eines Reaktorunfalls – zur Aufnahme sehr großer Mengen von radioaktivem Jod in der Schilddrüse kommt, kann die davon ausgehende Strahlung zum Absterben nennenswerter Gewebeanteile führen, mit der Folge einer nach Wochen bis Monaten entstehenden Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose). 

Außerdem kann die Strahlung in den weiterlebenden Zellen Mutationen verursachen, die in der Folge zu Schilddrüsenkarzinomen führen können. Ungeborene ab etwa dem dritten Schwangerschaftsmonat sowie Kinder und Jugendliche bis etwa zum 18. Lebensjahr sind besonders gefährdet. 

Ziel der Jodblockade ist somit in erster Linie die Verhinderung von strahleninduzierten Schilddrüsenkarzinomen bei Ungeborenen, Kindern und Jugendlichen der betroffenen Bevölkerung. Der Fokus liegt dabei auch auf Schwangeren und Stillenden, um über die Mutter das Ungeborene bzw. die Säuglinge zu schützen. 

Bei Personen, die während eines Notfalls oder unmittelbar danach in einer kerntechnischen Anlage tätig sind, kann eine Jodblockade auch zur Vermeidung einer Schilddrüsenunterfunktion dienen.

Jodblockade mit Tabletten oder Lugolscher Lösung

Die Strahlenschutzkommission (SSK) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehlen, nach kerntechnischen Unfällen Kaliumjodid zur Blockade der Schilddrüse einzunehmen. So könne das Risiko eines Schilddrüsenkarzinoms deutlich verringert werden. In Deutschland werden überwiegend Tabletten eingesetzt, in anderen Ländern, beispielsweise in Polen, kommt häufig die sogenannte Lugolsche Lösung zum Einsatz.  

Auch in deutschen Apotheken könnte die Nachfrage nach der Lösung und Jodidtabletten in den nächsten Tagen steigen. Wir haben unsere Rezepturexpertin, Dr. Annina Bergner, gefragt, wie die Lösung herzustellen ist. 

Gut zu wissen: Herstellung Lugolsche Lösung

Als Lugolsche Lösung wird eine wässrige Jod-Lösung 5% bezeichnet. Die Lösung hat folgende Zusammensetzung: 

Jod 5,0 g 
Kaliumjodid 10,0 g 
Gereinigtes Wasser zu 100,0 g 

In einem mit Glasstab tarierten Becherglas wird Kaliumjodid in etwa der doppelten Menge Gereinigtem Wasser gelöst. Jod wird hinzugefügt und unter Rühren in dem Ansatz gelöst. 

Die Lösung muss klar und je nach Konzentration hell- bis dunkelbraun aussehen. Ungelöste Rückstände dürfen nicht zu erkennen sein. Die Lösung ist auch im NRF unter der Ziffer 13.7. zu finden. 

Jod ist in Wasser sehr schwer löslich (0,293 g in 1.000 g Wasser bei 20 °C), kann aber bei ausreichend hohen Jodid-Konzentrationen unter Bildung von Polyjodiden, vorrangig I3– und I42–-Ionen, aufgelöst werden. 

Jod kann nur in konzentrierter Form in Anwesenheit von Kaliumjodid in Lösung gebracht werden. Deshalb werden beide Substanzen zunächst mit nur wenig Wasser vermengt. Ist das Jod vollständig gelöst, kann die Zubereitung mit Gereinigtem Wasser zur Ansatzmenge aufgefüllt werden, ohne dass das Jod wieder ausfällt. 

1 ml der Lösung enthält 50 mg Kaliumjodid. Studien und theoretische Betrachtungen deuten darauf hin, dass die Schilddrüse mit Kaliumjodid in einer Dosierung von 1,4 mg pro kg Körpergewicht effektiv blockiert werden kann. 

Für die hier in Deutschland üblichen Tabletten gibt es ein Dosierungsschema. Für die Lugolsche Lösung sollte man sich am Körpergewicht und den Empfehlungen für die Tabletten orientieren. 

Dosierungsschema für Kaliumjodidtabletten 65 mg

Cave: Gängige Jodidpräparate werden üblicherweise in Mikrogramm dosiert. Ein spezielles Arzneimittel für den regulären Vertrieb unter „Apothekenpflicht“ ist Kaliumjodid „Lannacher“ 65 mg Tabletten. Diese werden angewendet zur Jodblockade bei kerntechnischen Unfällen. 

Bei einer Gefährdung durch radioaktives Jod informieren die zuständigen Behörden über die Medien sowohl über die Bereitstellung der Tabletten als auch über die Einnahmedauer. Die Tabletten sind in Packungen mit 10 und 20 Tabletten erhältlich.

PersonengruppeTabletten à 65 mg KaliumjodidTagesgabe in mg Kaliumjodid
ab Geburt bis 1 Monat¼ Tablette16,25 mg
1 Monat bis 3 Jahre½ Tablette32,5 mg
3 Jahre bis 12 Jahre1 Tablette65 mg
älter als 12 Jahre bis 45 Jahre2 Tabletten130 mg

Zur Erinnerung: Jod und Jodid

Jod (im chemischen Kontext auch Iod geschrieben) liegt im elementaren Zustand als I2-Molekül vor. Bei Zimmertemperatur ist Jod ein grau bis blauvioletter Feststoff, der jedoch bereits bei Raumtempertur verdampft (sublimiert). Die Dämpfe sind haut- und schleimhautreizend.

Elementares Jod wird z. B. zur Desinfektion von Wunden eingesetzt, da es sowohl bakterizid als auch fungizid wirkt. Über die Nahrung bzw. entsprechende Präparate wird Jod meist als Jodid-Ionen (I-) in Form von Salzen (z. B. Kaliumjodid) aufgenommen. /sn

Einnahme hochdosierter Jodid-Präparate nur nach behördlicher Aufforderung 

Die Einnahme von Kaliumjodid sollte aufgrund potenzieller Reizung der Magenschleimhaut möglichst nicht nüchtern erfolgen. Tabletten können geschluckt oder in Flüssigkeit gelöst eingenommen werden. Die Einnahme kann – vor allem für Säuglinge und Kinder – durch Auflösen der Tablette in einem Getränk, z. B. Wasser oder Tee, erleichtert werden. Die Lösung ist jedoch nicht haltbar und muss sofort getrunken werden.https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/2018/2018-04-26Jodmerk.pdf?__blob=publicationFile   

Eine Jodblockade der Schilddrüse auf Aufforderung durch die zuständigen Behörden kommt nur dann in Betracht, wenn nach der radiologischen Lage tatsächlich eine erhebliche Freisetzung radioaktiven Jods erwartet werden muss. 

Da das Risiko eines strahleninduzierten Schilddrüsenkarzinoms bei Ungeborenen, Kindern und Jugendlichen eindeutig erhöht ist, steht der Schutz von Kindern, Jugendlichen, Schwangeren und Stillenden bei der Durchführung der Jodblockade im Vordergrund. 

Hinweis für Ihre Beratung

Zum Zeitpunkt der Artikelerstellung findet im ehemaligen Kernkraftwerk Tschernobyl keine Kernspaltung statt. Somit kann auch kein Jod-131 austreten. Dennoch sollten Sie sensibel mit solchen Anfragen umgehen. Das Fertigarzneimittel sowie die Lugolsche Lösung sind apothekenpflichtig.