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Retardtabletten: Worauf ist bei der Einnahme zu achten? 

Älterer Mann nimmt Schmerztablette ein
Retardtabletten geben den Wirkstoff nach und nach frei. | Bild: photophonie / AdobeStock

Viele Arzneimittel sind neben herkömmlichen (Film-)Tabletten auch als Retardtabletten erhältlich. Diese bieten viele Vorteile, weisen zugleich aber auch einige Besonderheiten auf. Bei der Abgabe in der Apotheke sollten die Kunden entsprechend darauf hingewiesen werden, um z. B. Überdosierungen zu vermeiden.

Was sind Retardtabletten?

Das Europäische Arzneibuch versteht unter Retardtabletten Zubereitungen mit einer veränderten Wirkstofffreisetzung, die im Vergleich zu in gleicher Weise verabreichten Darreichungsformen eine langsamere Freisetzung aufweisen. Diese verlängerte Freisetzung kann durch eine spezielle Zusammensetzung der Tablette oder durch ein spezielles Herstellungsverfahren erreicht werden. 

Ziel der Einnahme einer Retardarzneiform ist eine Verlängerung der Wirkung. Plasmaspitzen, wie sie typischerweise bei einer Mehrfachapplikation auftreten, können so vermindert werden. Durch die verzögerte Aufnahme des Wirkstoffs reduziert sich auch das Risiko für Nebenwirkungen. 

Darüber hinaus wird die Compliance erhöht, denn durch die Retardformulierung müssen die Patienten meist nur einmal täglich an eine Einnahme denken. 

Aufgepasst: Teilbarkeit nicht immer gegeben

Bei der Applikation von Retardtabletten muss genau aufgepasst werden, denn nur in Ausnahmefällen ist eine Teilung der Darreichungsform möglich. Wird eine ungeeignete Tablette geteilt oder zerkleinert, besteht die Gefahr des Dose-Dumpings. Dabei kommt es zu einer unkontrollierten Freisetzung einer größeren Menge an Arzneistoff. 

Ob eine Retardtablette teilbar ist oder nicht, hängt unter anderem von der verwendeten Technologie ab. Es wird zwischen Matrixtabletten, oralen osmotischen Systemen und MUPS-Tabletten unterschieden.

Matrixtabletten auf Basis unverdaulicher Gerüstbildner

Retardtabletten auf Basis einer unlöslichen Matrix kommen z. B. bei Oxygesic® Retardtabletten (Oxycodon-Hydrochlorid) und MST Mundipharma® Retardtabletten (Morphinsulfat) zum Einsatz. 

Nach der Applikation strömt Wasser in die unlösliche Matrix ein. Der Wirkstoff löst sich auf und kann dann durch die Poren der Matrix diffundieren. Die Freisetzung des Arzneistoffs entspricht dabei einer Kinetik 1. Ordnung. Bei diesem dosisabhängigen Mechanismus kommt es am Anfang, bei hoher Wirkstoffkonzentration in der Tablette, zu einer verstärkten Freisetzung. Mit zunehmender Dauer wird die Substanz langsamer freigesetzt. 

Das Gerüst einer solchen Matrixtablette besteht aus einem nicht quellfähigen, unverdaulichen Gerüstbildner wie beispielsweise Polyvinylchlorid, Carnaubawachs oder Polymethacrylaten. 

Nach der Passage des Verdauungstrakts wird der komplette, aber weitgehend arzneistofffreie Tablettenkörper mit dem Stuhl wieder ausgeschieden. Im Beratungsgespräch müssen die Kunden darauf vorbereitet werden, da es sonst zur Verunsicherung kommen kann und häufig an der Wirksamkeit des Arzneimittels gezweifelt wird. 

Wichtig ist auch der Hinweis, dass die Tabletten nicht geteilt oder verrieben werden dürfen, denn dadurch kann die Retardierung zerstört und der Wirkstoff schneller freigesetzt werden. 

Orale osmotische Systeme: Retardierung durch semipermeable Lackhülle

Schematische Darstellung eines oralen osmotischen Systems
Schematische Darstellung eines einfachen oralen osmotischen Systems  |Quelle: A.Fahr, Voigt Pharmazeutische Technologie, Deutscher Apotheker Verlag, 13. Auflage, Stuttgart 2021. 

Eine weitere Möglichkeit, die Freisetzung des Wirkstoffs zu steuern, stellen sogenannte orale osmotische Systeme (OROS®, „Osmotic Release System“) dar. Entsprechende Fertigpräparate sind unter anderem Alna® Ocas® Retardtabletten (Tamsulosin-Hydrochlorid) oder Jurnista® Retardtabletten (Hydromorphon-Hydrochlorid). 

Bei diesen Tabletten wird der Arzneistoff zusammen mit einem osmotisch wirksamen Hilfsstoff wie Natriumchlorid oder Glucose von einer stabilen, wasserunlöslichen, aber semipermeablen Lackschicht umhüllt. 

Mithilfe eines Lasers wird in die Lackhülle des Tablettenkörpers eine kleine Öffnung gebohrt. Gelangt die Tablette in den Magen-Darm-Trakt, strömt aufgrund osmotischer Prozesse Wasser durch die semipermeable Lackhülle und löst den Wirkstoff auf, bis eine gesättigte Lösung erreicht wird. 

Diese gesättigte Arzneistofflösung kann jedoch nicht durch die Lackschicht diffundieren, sondern wird – aufgrund des erhöhten osmotischen Drucks – durch die kleine Öffnung herausgedrückt. Die Freisetzungsgeschwindigkeit kann somit wieder über einen längeren Zeitraum konstant gehalten werden und entspricht einer Kinetik 1. Ordnung. 

Nach der Passage durch den Verdauungstrakt wird die stabile Lackhülle weitgehend vollständig ausgeschieden. Wie bei den Matrixtabletten darf daher nicht vergessen werden, die Kunden auf unverdaute Tablettenreste hinzuweisen. Ebenso müssen Retardtabletten auf Basis oraler osmotischer Systeme als Ganzes ungeteilt und unzerkleinert geschluckt werden. 

Gut zu wissen: Concerta® – Retardtabletten

Concerta® Retardtabletten mit dem Wirkstoff Methylphenidat-Hydrochlorid gehören ebenfalls zu den oralen osmotischen Systemen, der Wirkstoff wird hier in einem zweistufigen Prozess freigesetzt. 

Am Morgen wird unabhängig von einer Mahlzeit eine Tablette eingenommen. Nach der Einnahme wird die Umhüllung der Tablette, die bereits Wirkstoff enthält, rasch abgebaut und 22 % an Methylphenidat-Hydrochlorid unretardiert abgegeben. Nach kurzer Zeit kann so ein wirksamer Plasmaspiegel erreicht werden. 

Nachdem sich diese Umhüllung aufgelöst hat, kann Wasser in die Tablette eindringen und der restliche Anteil an Wirkstoff wird im Laufe des Tages kontinuierlich freigesetzt. 

Im Vergleich zu einer dreimal täglichen Einnahme von schnell freisetzenden Präparaten können durch die einmalige Einnahme der Retardtablette Schwankungen zwischen maximaler und minimaler Konzentration deutlich reduziert werden. Der resorbierte Anteil an Methylphenidat-Hydrochlorid ist dabei vergleichbar.

MUPS-Tabletten: Wirkstoffhaltige Pellets ermöglichen Teilbarkeit

Schematische Darstellung einer MUPS-Tablette
Eine MUPS-Retardtablette besteht aus wirkstoffhaltigen Pellets, die von einem Polymerfilm überzogen sind. | Screenshot: daz.online 

Anders als die beiden zuerst genannten Technologien bestehen MUPS-Retardtabletten aus wirkstoffhaltigen Pellets, die mit einem wasserunlöslichen Polymer überzogen sind und zusammen mit weiteren Hilfsstoffen zu einer Tablette verpresst werden. Das Herstellungsverfahren wird als „multiple unit pellet system“(MUPS)-Technologie bezeichnet. 

Die Tablette selbst ist dabei nicht mit dem Polymerfilm überzogen und kann nach der Einnahme im Magen-Darm-Trakt rasch in die einzelnen Retard-Pellets zerfallen. 

MUPS-Tabletten zeigen eine weitgehend konstante Freigabe des Wirkstoffs. Dadurch kann auch bei einmal täglicher Gabe ein annähernd konstanter Blutspiegel erreicht werden. Diese Freisetzungskinetik wird auch als Kinetik 0. Ordnung oder „zero order kinetics“ (ZOK) bezeichnet. 

Im Gegensatz zu den Matrixtabletten und den oralen osmotischen Systemen dürfen Tabletten, bei denen der Wirkstoff in einzelne Pellets eingebettet ist, geteilt werden. Teilweise dient das Teilen der Retardtablette aber nur dazu, das Schlucken zu erleichtern, und nicht um zwei oder mehrere gleich große Dosen zu erhalten (dosisgleiche Teilung)

Keinesfalls dürfen MUPS-Tabletten zermörsert werden. Dabei können Risse im Überzug entstehen und es kann zu einem plötzlichen Freisetzen nahezu der gesamten Dosis kommen. Quellen
Kirchner W.: Arzneiformen richtig anwenden, Deutscher Apotheker Verlage, 4. Auflage, Stuttgart 2016.
https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2019/daz-28-2019/schnell-oder-langsam
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/retardiert-und-kombiniert/
 

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