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Tramadol: Wechselwirkung mit oralen Antikoagulanzien

eine Tramadol-Tablette
Die gleichzeitige Einnahme von Tramadol und Vitamin-K-Antagonisten kann zu großflächigen Blutungen der Haut führen. | Bild: luchschenF / AdobeStock

In den deutschen Fachinformationen zu Tramadol wird unter anderem vor einer Wechselwirkung mit Warfarin gewarnt:

„Bei gleichzeitiger Anwendung von Tramadol und Cumarin-Derivaten (z. B. Warfarin) ist Vorsicht geboten, da bei einigen Patienten erhöhte INR-Werte mit größeren Blutungen und Ekchymosen beobachtet wurden.“ 

Fachinformation zu Tramal® long von Grünenthal, Stand Januar 2022

Die Kombination aus Tramadol (Opioid) und Vitamin-K-Antagonisten wie Warfarin oder Phenprocoumon kann die Blutungsneigung erhöhen und zu großflächigen Blutungen der Haut (Ekchymosen) führen. 

Als ein Problem der Warfarin-/Phenprocoumon-Therapie gilt unter anderem das schmale therapeutische Fenster im INR-Bereich 2 bis 3. Ein weiteres ist die Verstoffwechselung über CYP3A4 und CYP2C9, was zu einem hohen Interaktionspotenzial führt.

Zur Erinnerung: Was ist der INR-Wert?

INR steht für „International Normalized Ratio“. Dahinter verbirgt sich ein Wert, der zur Beurteilung der Blutgerinnung dient. Er wird beispielsweise genutzt, um den Verlauf einer Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten zu kontrollieren, und gibt an, um welchen Faktor die Gerinnungszeit durch die Einnahme des Gerinnungshemmers verlängert wird. 

Bei Gesunden liegt der INR-Wert bei nahe 1. Je höher der INR-Wert, desto mehr neigt ein Patient zu Blutungen.

Auch in den deutschen Fachinformationen von Phenprocoumon wird Tramadol als eine von vielen Substanzen aufgeführt, welche die Wirkung von oralen Antikoagulanzien verstärken können. In der Lauer-Taxe wird beim Warfarin-Präparat Coumadin® Tramadol als einer von vielen möglichen Interaktionspartnern aufgeführt, welche die blutgerinnungshemmende Wirkung von Vitamin-K-Antagonisten verstärken.

Fall in Großbritannien: Tramadol gegen Rückenschmerzen verordnet

In Großbritannien hat ein Gerichtsmediziner das dortige staatliche Gesundheitssystem, den „National Health Service“ (NHS), öffentlich vor der – offenbar unzureichend bekannten – Wechselwirkung zwischen Tramadol und Warfarin gewarnt. In einem entsprechenden Bericht zur Prävention künftiger Todesfälle heißt es, dass eine Frau infolge einer „allgemein unbekannten“ Wechselwirkung zwischen Warfarin und Tramadol starb.

Die Frau sei am 6. Januar 2021 ins Krankenhaus eingeliefert worden und am 8. Januar 2021 verstorben. Sie soll sich in den Tagen vor der Krankenhauseinlieferung zunehmend unwohl gefühlt haben. Bei Einlieferung sei dann eine Nierenbeckenentzündung festgestellt worden, sodass sie intravenös Antibiotika erhielt. 

Allerdings nahm die Frau auch Warfarin ein und hatte kürzlich Tramadol gegen Rückenschmerzen verordnet bekommen. Ihr INR lag bei 11,6 und war damit extrem erhöht. Sie erhielt Arzneimittel, um den INR-Wert zu senken, heißt es. Doch ihr Zustand verschlechterte sich weiter, bis sie starb. 

Als Todesursache wurden Blutungen im Gehirn festgestellt. Bereits am 21. Dezember 2020 war bei der Verstorbenen ein INR-Wert von 3,3 festgestellt worden, ihr erstes Tramadol-Rezept hatte sie am 20. Dezember 2020 erhalten – ein weiteres am 4. Januar 2021.

Wechselwirkung bislang nicht aufgeführt

In dem Bericht wird ein Kommentar des britischen „Anticoagulation Service“ zitiert, in dem es zu Tramadol heißt: „Bekannter Wechselwirkungspartner, der zwar nicht im BNF [British National Formulary] aufgeführt ist, aber erfahrungsgemäß den INR-Wert erhöhen kann.“ Im BNF sind aktuelle Leitlinien für die Verordnung, Abgabe und Verabreichung von Arzneimitteln in Großbritannien enthalten. 

Der Gerichtsmediziner folgert daraus, dass der verordnende Arzt somit nicht vor der potenziellen Wechselwirkung gewarnt werden konnte. Deshalb solle der NHS in Großbritannien nun Maßnahmen ergreifen, um künftige Todesfälle zu vermeiden.

Ein Sprecher des BNF sagte gegenüber dem „Pharmaceutical Journal“ bereits, dass die Interaktion zwischen Warfarin und Tramadol ab Januar 2024 aufgenommen würde.

Besteht das Risiko auch bei direkten oralen Antikoagulanzien?

Im November 2022 wurde im „European Journal of Clinical Pharmacology“ eine Metaanalyse veröffentlicht, die allgemein das Blutungsrisiko unter dem Gebrauch von Tramadol bei Patienten mit oraler Antikoagulation untersuchte. Im Fazit der Studie heißt es: „Diese systematische Überprüfung bestätigt einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Tramadol und dem Risiko von Blutungen bei Patienten, die Vitamin-K-Antagonisten einnehmen“, und:

„Die Evidenz ist zu begrenzt, um beurteilen zu können, ob dieses Risiko auch für Patienten gilt, die direkte orale Antikoagulanzien einnehmen, und es sind weitere Studien erforderlich.“

Lévy C, Gosselin L, A Vilcu et al. European Journal of Clinical Pharmacology 2022

In einer wissenschaftlichen Arbeit von 2019 heißt es, dass der genaue Mechanismus der Wechselwirkung zwischen Tramadol und Warfarin noch nicht geklärt ist. Da Tramadol nur zu 20 % an Plasmaproteine gebunden wird, gehe man nicht davon aus, dass es in klinisch relevantem Umfang Warfarin aus seiner Plasmaproteinbindung verdrängt. 

Wie kommt diese Wechselwirkung zustande?

Tramadol könne aber die Wiederaufnahme von Serotonin in die Blutplättchen hemmen und somit ähnlich wie selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) die Blutungsneigung erhöhen. Serotonin sei ein relativ schwacher Thrombozytenaktivator, der in Ruhe in den Thrombozyten gespeichert wird. 

Es könnte aber auch sein, dass die Warfarin-Spiegel über den CYP3A4-Stoffwechsel erhöht werden. Zudem seien bei Tramadol genetische CYP2D6-Polymorphismen zu bedenken, die das Risiko für die Warfarin-Interaktion erhöhen könnten.

Wie auch immer es genau zu der (lebensgefährlichen) Wechselwirkung kommt – bereits 2002 machte die schwedische Arzneimittelbehörde darauf aufmerksam, Gerinnungswerte engmaschig zu kontrollieren, wenn Tramadol gemeinsam mit Antikoagulanzien angewendet wird. In Fallberichten wurde damals darüber berichtet, dass die INR-Werte wieder sanken, wenn Tramadol abgesetzt wurde. In der Arbeit von 2019 heißt es, dass neben der Überwachung des INR-Wertes die Warfarin-Dosis initial um 25 % reduziert werden sollte, wenn Tramadol langfristig verordnet wird.  

In der Apotheke könnte man in solchen Fällen also durchaus durch Aufklärung und Beratung Todesfälle verhindern. Quellen:
Fachinformation zu Tramal® long von Grünenthal, Stand Januar 2022, www.fachinfo.de/;

www.altmeyers.org/de/dermatologie/ekchymosen-1101;

S2e-Leitlinie Neue Thrombozyten-Aggregationshemmer, Einsatz in der Hausarztpraxis. Gültig bis 02.04.2024, Stand 03.04.2019, register.awmf.org/de/leitlinien/detail/053-041;

Rose O. Pharmakotherapie der Antikoagulation: Grundlagen für das Medikationsmanagement. DAZ 2018, Nr. 1, S. 63, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2018/daz-1-2018/pharmakotherapie-der-antikoagulation;

Schneider M. Fragliche Stabilität der INR: Patienten unter Warfarin-Therapie nicht gut eingestellt. DAZ 2016, Nr. 41, S. 60, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2016/daz-41-2016/fragliche-stabilitaet-der-inr;

Fachinformation zu Marcumar® von Viatris, Stand Mai 2023, www.fachinfo.de/;

Eintrag in der Lauer-Taxe zu Wechselwirkungen von COUMADIN 5 mg Tabletten, Stand 19.12.2023.;

Lovell T. Coroner advises NHS England to warn prescribers about interaction of tramadol and warfarin. 13. Dezember 2023, pharmaceutical-journal.com/article/news/coroner-advises-nhs-england-to-warn-prescribers-about-interaction-of-tramadol-and-warfarin;

Susan Gladstone: Prevention of future deaths report, 1. Dezember 2023, www.judiciary.uk/prevention-of-future-death-reports/susan-gladstone-prevention-of-future-deaths-report/;

British National Formulary (BNF): Integrated Healthcare Information for Professionals MedicinesComplete Online, www.deutscher-apotheker-verlag.de/British-National-Formulary-BNF/174102100.MCC;

Lévy C, Gosselin L, A Vilcu et al. Use of tramadol and the risk of bleeding complications in patients on oral anticoagulants: a systematic review and meta-analysis. European Journal of Clinical Pharmacology 2022;78:1889–1898, link.springer.com/article/10.1007/s00228-022-03411-1;

Veltri K, Olsufka W. Bleeding and Elevated INR Secondary to Concomitant Tramadol and Warfarin Administration. Pharmacy and Therapeutics 2019;44(9):546–548, www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6705477/

[13] Der Arzneimittelbrief. Wechselwirkung zwischen Tramadol und Antikoagulanzien? Jg. 36, S. 78b; Ausgabe 10 / 2002, der-arzneimittelbrief.com/artikel/2002/wechselwirkung-zwischen-tramadol-und-antikoagulanzien
 

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