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mehr wissen: Noceboeffekt: Dunkle Schatten über der Therapie

Der Placeboeffekt ist vielen Menschen mittlerweile ein Begriff. Man versteht dabei das Auftreten einer therapeutischen Wirkung auch nach Gabe eines Scheinpräparates. Dieser Effekt beschreibt also die positive Wirkung einer Scheinbehandlung. Der negative Gegenpart dazu, der Noceboeffekt, ist weit weniger bekannt und wird häufig übersehen.

Folge negativer Erwartungen

Nocebo lässt sich vom lateinischen Wort nocere (schaden) ableiten und mit „ich werde schaden“ übersetzen. Gemeint ist damit die negative Auswirkung einer Scheinbehandlung. Genau wie Medikamente mit pharmakologisch wirksamen Substanzen können auch Placebopräparate, also solche ohne wirksamen Inhaltsstoff, zu Nebenwirkungen führen. Diese treten besonders bei ängstlichen Patienten auf und auch, je intensiver man sich mit möglichen Nebenwirkungen beschäftigt. 

Die Symptome entstehen dabei allein durch eine negative Erwartungshaltung. Daneben meint der Noceboeffekt auch das Ausbleiben einer heilenden Wirkung, obwohl ein wirksames Arzneimittel verabreicht wurde.

Eindrucksvolles Beispiel

Welche ernsthaften Folgen der Noceboeffekt haben kann, zeigt das Beispiel eines jungen Amerikaners. Nach einem schlimmen Streit mit seiner Freundin nahm der Mann eine deutliche Überdosis eines Antidepressivums – mit dem Ziel, sich das Leben zu nehmen. Da er unter Depressionen litt, hatte er ein entsprechendes Arzneimittel von seinem Arzt verschrieben bekommen. Schon bald nach der Einnahme traten entsprechende Symptome auf: 

Der Mann begann zu zittern, sein Puls raste und der Blutdruck sank gefährlich ab. Im Krankenhaus bemühten sich Ärzte, seinen lebensgefährlichen Zustand zu stabilisieren. Doch dann gab es eine Überraschung: Der Amerikaner hatte an einer Arzneimittelstudie zu Depressionen teilgenommen und war der Placebo-Gruppe zugeteilt. Er hatte zwar eine Unmenge an Tabletten geschluckt, diese waren jedoch ohne Wirkstoff. Als die Ärzte das erfuhren und es dem Patienten mitteilten, erholte sich sein körperlicher Zustand unmittelbar. 

Was unglaublich klingt, beruht auf Berichten der US-amerikanischen University of Mississippi von 2007 und wird viel zitiert. Obwohl es sich dabei sicherlich um ein drastisches Beispiel handelt, zeigt der Fall, dass der Noceboeffekt auf dem Wissen über die schädlichen Wirkungen einer Medikamenteneinnahme oder Therapie beruht.

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Gegenpart des Placeboeffekts heißt Noceboeffekt.
  • Infolge des Noceboeffekts können bei einer Scheinbehandlung Nebenwirkungen auftreten, bei einem wirksamen Arzneimittel kann die heilende Wirkung ausbleiben.
  • Ängstliche Menschen sind besonders vom Noceboeffekt betroffen, denn er wird durch negative Erwartungen ausgelöst.
  • Beim Auftreten des Noceboeffekts spielt die Kommunikation mit dem Patienten über sein Arzneimittel eine wichtige Rolle.

Experimentelle Untersuchungen

Placebo- und Noceboeffekt lassen sich gut mit bildgebenden Verfahren beobachten. Dabei kann gezeigt werden, welche Bereiche im Gehirn dabei aktiviert werden.

Geht ein Patient beispielsweise davon aus, dass die Einnahme eines Arzneimittels seine Schmerzen bessern wird, schüttet sein Gehirn tatsächlich schmerzlindernde Stoffe aus. Endogene Opioide und auch der Neurotransmitter Dopamin können die Weiterleitung des Schmerzreizes im Rückenmark verändern. Die Schmerzen werden weniger, obwohl der Patient gar kein Analgetikum eingenommen hat. Besonders wahrscheinlich ist ein solcher positiver Effekt, wenn die Betroffenen die Wirksamkeit eines Arzneimittels bei Schmerzen schon mehrfach erlebt haben. Dann können die Reaktionen im Körper durch die eigene Erwartungshaltung einfacher ausgelöst werden.

Beim Noceboeffekt dagegen führt allein die Erwartung, möglicherweise Schmerzen zu erleiden, zur Aktivierung von Schmerzzentren im Gehirn. Die Freisetzung körpereigener Opioide wird blockiert und es kommt zu einer verstärkten Schmerzwahrnehmung.

Kommunikation entscheidend

Ob es sich nun um den Placebo- oder Noceboeffekt handelt, in beiden Fällen spielt die Kommunikation zwischen Mediziner und Patient eine wichtige Rolle. Im Therapiegespräch kann der behandelnde Arzt allein durch seine Wortwahl positive Erwartungen beim Patienten auslösen und die Zuversicht auf Besserung fördern. Das Gleiche gilt auch für den Umgang mit Nebenwirkungen, die nach der Einnahme eines Arzneimittels auftreten können.

Ein Beispiel dafür ist eine Studie mit männlichen Blutdruckpatienten, die den Betablocker Metoprolol bekamen und dazu in drei Gruppen eingeteilt wurden. In der ersten Gruppe wurden die Männer darüber aufgeklärt, dass es bei der Einnahme des Arzneimittels zu Erektionsstörungen kommen kann. Die Teilnehmenden der zweiten Gruppe wussten nur, welches Medikament sie bekamen; eine mögliche Beeinträchtigung der Sexualität wurde ihnen nicht mitgeteilt. Die Patienten der dritten Gruppe wussten auch den Namen des Präparats nicht. Über alle anderen möglichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei Einnahme von Metoprolol wurden sämtliche Teilnehmenden informiert. 

Während der Therapie berichteten in der ersten Gruppe, die vollständig über die mögliche Nebenwirkung informiert war, 32 % der Männer über das Auftreten einer erektilen Dysfunktion. In der zweiten und dritten Gruppe dagegen waren es mit 13 % bzw. 8 % deutlich weniger. 

Fazit war: Eine genaue Beschreibung einer möglicherweise auftretenden Nebenwirkung führt zu mehr Fällen genau dieser Nebenwirkung. Auch in einer Studie zur Therapie einer instabilen Angina pectoris mit Acetylsalicylsäure brachen deutlich mehr Patienten die Einnahme wegen Magenschmerzen ab, wenn sie darüber informiert waren.

Ethisches Dilemma

Die beiden Beispiele zeigen auch deutlich, in welchem Zwiespalt sich Ärzte häufig aufgrund der Nocebowirkung befinden. Eine Aufklärung des Patienten zu möglichen Nebenwirkungen ist verpflichtend und wichtig, doch allein durch diese Informationen kann es dazu kommen, dass die genannten Nebenwirkungen verstärkt auftreten und Patienten die Therapie abbrechen. 

Informationen dürfen dem Patienten nicht vorenthalten werden, können aber durchaus anders präsentiert werden. Statt zu betonen, dass eine unerwünschte Arzneimittelwirkung bei 10 % der Patienten vorkommt, kann man stattdessen hervorheben, dass 90 % der Patienten das Medikament gut vertragen.

Noceboeffekt und Corona-Impfung

Bei den Corona-Impfungen ging ein nicht geringer Teil der milden Impfreaktionen wahrscheinlich ebenfalls auf den Noceboeffekt zurück. Das ist insofern wenig überraschend, da diese Impfstoffe zur Zeit der Pandemie ein großes öffentliches Interesse hervorriefen. In zahlreichen Medien wurde ausführlich über mögliche Nebenwirkungen der Impfungen berichtet. 

Dazu kam eine gewisse Skepsis gegenüber dieser neuen Art der Impfstoffe. Rund ein Drittel der Menschen, die eine Impfung mit einem Scheinwirkstoff bekommen hatten, berichteten über systemische Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und Müdigkeit. Diese Symptome, die besonders häufig Noceboeffekte sind, wurden in den Informationsbroschüren zu den Impfungen auch besonders häufig als mögliche Folgen einer Impfung beschrieben.

Wie erkläre ich es meinen Kunden?

  • „Diese Tabletten werden von sehr vielen Menschen eingenommen und von mehr als 90 % auch gut vertragen. Sollten dennoch unerwartet Beschwerden auftreten, melden Sie diese bitte gleich Ihrem Arzt.“
  • „Im Beipackzettel steht eine schlimme Nebenwirkung? Ich kann verstehen, dass Sie das beunruhigt. Die Zahl hier zeigt aber, dass diese Nebenwirkung äußerst unwahrscheinlich ist. Gleichzeitig haben Studien gezeigt, dass das Arzneimittel vor einer lebensbedrohlichen Erkrankung schützen kann.“

Bei Patienten unbeliebt: Arzneistoffgruppe der Statine

Die Arzneistoffgruppe der Statine gehört zu den lipidsenkenden Wirkstoffen, die zur Reduktion erhöhter Blutfettwerte und damit zur Vorbeugung von kardiovaskulären Erkrankungen eingesetzt werden. Zu ihren häufigsten Nebenwirkungen gehören Verdauungsstörungen und Muskelbeschwerden, in sehr seltenen Fällen kann es zu einer lebensgefährlichen Auflösung der Skelettmuskulatur kommen. 

Statine sind bei vielen Patienten unbeliebt und weisen einen relativ hohen Noceboeffekt auf. Mehrfach konnte in Studien gezeigt werden, dass eine große Anzahl an auftretenden Nebenwirkungen auf eine negative Erwartungshaltung der Patienten zurückzuführen ist. Auch in der Placebo-Gruppe traten bei rund 25 % der Teilnehmenden Muskelprobleme auf. Diese Beschwerden empfanden die Patienten teilweise als so schlimm, dass das Scheinmedikament aufgrund von Nebenwirkungen abgesetzt wurde.

Dabei sind echte Statinunverträglichkeiten selten. Über 90 % der Patienten vertragen die Wirkstoffe ohne Probleme. Der Nutzen der Cholesterinsenker ist daher unbestritten und stellt nach wie vor den Therapiestandard zur Senkung des LDL-Cholesterinspiegels dar. Für die behandelnden Mediziner kann es dabei eine Herausforderung sein, eine echte Statinunverträglichkeit nicht zu übersehen. Auch für die Kommunikation in der Apotheke ist eine einfühlsame Beratung der Patienten wichtig. Diese sollen darüber aufgeklärt werden, dass sie die Statine wie verordnet einnehmen und keinesfalls eigenmächtig absetzen sollen. Bei auftretenden Nebenwirkungen ist es wichtig, zunächst das Gespräch mit dem Arzt zu suchen.

Packungsbeilage verbessern

Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entstehung des Noceboeffekts spielt das Lesen des Beipackzettels. Werden bei Patienten daraufhin negative Erwartungen ausgelöst, treten Nebenwirkungen häufiger auf. Allerdings ist es gesetzlich vorgeschrieben, Nebenwirkungen des Arzneimittels in der Packungsbeilage anzugeben, was unter anderem der haftungsrechtlichen Absicherung der pharmazeutischen Hersteller dient. Auch ist es natürlich wichtig, dass Patienten alle relevanten Informationen zu ihrem Medikament einfach nachlesen können.

Zahlreiche Experten fordern allerdings schon seit Längerem, die Packungsbeilage anders zu gestalten und damit Ängste und negative Erwartungen zu reduzieren. Aussagen könnten beispielsweise positiver formuliert werden. Bisher ist eine Reform des Beipackzettels jedoch nicht geplant. Ängstlichen Patienten ist zu raten, sich die Angaben im Beipackzettel in der Apotheke verständlich erklären zu lassen. Bei der Kommunikation mit dem Kunden sind dabei möglichst die Vorteile einer Therapie in den Vordergrund zu stellen.

Dr. Annina Bergner

Apothekerin, Fachjournalistin

Höchberg

autor@ptaheute.de