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mehr wissen: Virtuelle Realität: Eine Brille gegen Angst

von Matthias Bauer

Wer unter einer Angststörung leidet, reagiert unangemessen stark auf eine bestimmte Situation oder ein Objekt. Dabei geht die Angst meist mit körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Atemnot, Übelkeit oder Schweißausbruch einher. Zu den Angststörungen zählen unter anderem Panikstörungen, die Angst vor Menschenmengen oder öffentlichen Plätzen (Agoraphobie), soziale Phobie, Höhenangst, Flugangst und die Angst vor Spinnen (Arachnophobie). Tief sitzende, lang anhaltende Ängste aufgrund traumatischer Ereignisse, sogenannte posttraumatische Belastungsstörungen, gehören ebenso dazu. Die Betroffenen leiden oft jahrzehntelang und entwickeln häufig zusätzliche Erkrankungen wie Depressionen oder Suchterkrankungen. Gleichzeitig haben die Ängste oft Isolation und Berufsunfähigkeit zur Folge.

Konfrontation mit der Angst

Ein Bestandteil der Verhaltenstherapie kann sein, in die angstbesetzte Situation zu gehen und sie auszuhalten. Durch das bewusste Erleben der Situation wird ein neues Verhalten erlernt beziehungsweise das alte korrigiert. Um die Angst abzubauen, wird der Patient bei der „In-vivo-Exposition“ mit der angstauslösenden Situation oder dem Objekt konfrontiert. Dazu gehen Therapeuten mit den Betroffenen in die Situation, die die Angst auslöst. Zum Beispiel fährt man gemeinsam stundenlang Straßenbahn, um zu zeigen, dass nichts Schlimmes passieren kann. Diese Therapie ist zeitaufwendig und oft wollen sich die Patienten mit dieser realen – für sie unsicheren – Situation nicht konfrontieren lassen.

Bei der „In-sensu-Exposition“ dagegen muss sich der Patient die angstauslösende Situation vorstellen, die ihm dazu von seinem Therapeuten beschrieben wird. Egal ob real oder nicht: Die Konfrontation mit dem angstauslösenden Reiz muss immer langsam gesteigert werden, um keine Panikreaktion auszulösen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die virtuelle Realität kann zur Therapie von Angststörungen genutzt werden. Sie ist ein sicherer Mittelweg zwischen dem tatsächlichen Erleben und der reinen Vorstellung einer angstauslösenden Situation.
  • Die Hemmschwelle ist für den Patienten oft geringer als bei der tatsächlichen Konfrontation mit dem Angstauslöser.
  • Die Virtuelle-Realität-Expositionstherapie ist bei Agoraphobie mit Panikstörung und spezifischer Phobie genauso effektiv wie die traditionelle Expositionstherapie in der Realität.

Exposition in der virtuellen Realität

Die virtuelle Realität, kurz VR, ist ein Meilenstein in der Therapie der Angststörungen und birgt noch großes Potenzial für die Zukunft. Psychotherapeuten setzen die VR in einer Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie und Expositionstraining ein. Sie bietet einen vorteilhaften Mittelweg zwischen dem tatsächlichen Erleben und einer reinen Vorstellung der beängstigenden Situation beziehungsweise des angstauslösenden Reizes. Der Einsatz von VR ermöglicht es, Betroffenen schneller zu helfen, wenn beispielsweise nur wenige Therapieplätze beziehungsweise Therapeuten zur Verfügung stehen. Bereits Ende der 1990er-Jahre beobachtete man, dass virtuelle Reize reale Ängsteauslösen können, die mit körperlichen Symptomen, wie beispielsweise Herzrasen und Schwitzen einhergehen. Zwei Voraussetzungen sind nötig, damit der Patient die virtuelle Umgebung als real erlebt: Die computergenerierte Umgebung muss dreidimensional dargestellt sein und er muss mit ihr interagieren können. Es wird eine lebendige Erfahrung generiert, sodass der Patient das Gefühl des „Dort-Seins“ während der Nutzung der VR hat – die reale Umgebung wird komplett ausgeblendet. Möglich ist dies mithilfe einer VR-Brille, die die angstauslösende Situation simuliert. So kann zum Beispiel der Innenraum eines Flugzeugs bei Flugangst oder die Kabine eines Fahrstuhls bei Klaustrophobie simuliert werden. Bei der Behandlung trägt der Patient die VR-Brille und kann sich in alle Richtungen umschauen und bewegen. Die Bewegungen werden mittels Sensoren erfasst und durch Klänge und Gerüche kann der Eindruck, sich in der realen Welt zu befinden, noch verstärkt werden. Die Konfrontation mit der angstauslösenden Situation erfolgt durch die VR unter kontrollierten Bedingungen, was perfekt ist, um sich seinen Ängsten gefahrlos stellen zu können. Die Hemmschwelle ist für die meisten Patienten ebenfalls geringer als bei einer tatsächlichen Konfrontation mit dem Angstauslöser. Wer beispielsweise Angst vor Spinnen hat, wird lieber eine VR-Brille aufsetzen, als eine echte Spinne über seine Hand laufen zu lassen.

So real wie nötig

Eine Abwandlung der VR ist die sogenannte Augmented Reality (AR, englisch für erweiterte Realität), bei der mithilfe eines Smartphones oder einer AR-Brille digitale Elemente in die reale Welt eingefügt werden. Wenn beispielsweise ein Patient nach einem Verkehrsunfall unter einer Angststörung leidet, kann er mit der Angst konfrontiert werden, indem über eine AR-Brille die digitale Situation projiziert wird, während er im realen Fahrzeug sitzt.

Inzwischen lassen sich nicht nur Orte oder Tiere virtuell darstellen. Auch die Interaktion mit Menschen kann mithilfe virtueller Charaktere simuliert werden. Leidet der Patient zum Beispiel unter einer sozialen Phobie, kann er mithilfe von VR eine Rede vor einem virtuellen Publikum halten. Die Reaktion der einzelnen Figuren kann dabei für ein echteres Erleben variiert werden: Gelangweilte oder tuschelnde Figuren konfrontieren den Patienten mit seiner Angst, während zuhörende und applaudierende Figuren dem Patienten Selbstbewusstsein vermitteln. Die Steigerung der Konfrontation muss auch bei VR und AR stufenweise erfolgen.

Unverarbeitete Kriegserlebnisse

Soldaten, die aus Kriegsgebieten zurückkehren, leiden häufig an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer PTBS oder auf Englisch post-traumatic stress disorder (PTSD). Häufig ziehen sich die Betroffenen zurück und leiden still, da sie nicht erklären können, was sie so sehr belastet. Sie reagieren oft heftig auf eigentlich harmlose Schlüsselreize, die ihr Gehirn mit der traumatischen Situation verbunden hat. Das können ganz normale Alltagssituationen sein. Einen ehemaligen Soldaten verstörte beispielsweise Abfall, der am Straßenrand lag. Um das zugrunde liegende Trauma erkennen und behandeln zu können, wurde am Computer eine realitätsgetreue Nachbildung der Umgebung und Kriegssituation erstellt, in der sich der Soldat damals befunden hatte. Dieser VR wurde der Patient unter therapeutischer Anleitung schrittweise ausgesetzt. Beim Durchlaufen der Computersimulation wurde klar, dass bei seinem Einsatz in Afghanistan eine in einem Mülleimer versteckte Bombe am Straßenrand explodiert war. Er hatte diese Tatsache verdrängt, da die Bombe seinen Jeep zerstörte und seinen Kameraden tötete. Wegen dieses Traumas konnte also der Anblick von Abfall Angstzustände bei ihm auslösen.

Empfehlungen der Leitlinie

Auch wenn VR noch nicht zum klinischen Alltag gehört, arbeiten spezialisierte Kliniken bereits therapeutisch damit zur Bewältigung von Traumata. Dazu gehören nicht nur Kriege, sondern auch Opfer von Naturkatastrophen oder Gewalt. Wichtig sind dabei immer die therapeutische Begleitung des Patienten und eine langsame, schrittweise Herangehensweise, um keine Retraumatisierung auszulösen. Die überwiegende Zahl der VR-Anwendungen basiert auf der Anpassung bereits etablierter psychotherapeutischer Methoden, speziell der Expositionstherapie. Die Virtuelle-Realität-Expositionstherapie, kurz VRET, ist jedoch keine eigenständige Therapieform, sondern immer nur eine Erweiterung der psychotherapeutischen Behandlung bei Angsterkrankungen. Laut der aktuellen Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen aus dem Jahr 2021 lassen sich mit einer VRET unter anderem soziale Phobien zusammen mit einer Standardpsychotherapie behandeln. Auch spezifische Phobien wie Spinnen-, Höhen- oder Flugangst können mithilfe einer VRET therapiert werden.

Die VRET ist jedoch immer noch Gegenstand intensiver Forschung und es fehlt für viele Angststörungen an aussagekräftigen Daten aus der klinischen Praxis. Das mag auch daran liegen, dass die benötigte Hard- und Software je nach Anforderung noch teuer ist und nur für wenige Phobien entsprechende Computerprogramme zur Verfügung stehen.

Mit einer App zu Hause therapieren

Digitale Anwendungen für die Therapie von Angsterkrankungen sind im DiGA-Verzeichnis (digitale Gesundheitsanwendungen) des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfasst. Die dort gelisteten digitalen Gesundheitsanwendungen können von Ärzten verordnet werden und werden von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet. Ihr jeweiliger Nutzen ist durch entsprechende Studien belegt worden.

Die Anwendung „Invirto“ ermöglicht Patienten mit Agoraphobie, sozialer Phobie oder Panikstörung, die Behandlung zu Hause durchzuführen. Der Nutzer erhält eine Smartphone-App, eine VR-Brille und Kopfhörer und wird therapeutisch begleitet, dazu findet ein umfangreiches Erstgespräch mit einem Psychotherapeuten oder einer -therapeutin statt. Der Patient erarbeitet die Schulungsinhalte der App selbstständig und lernt, durch Übungen besser mit seiner Angst umzugehen. Man entscheidet selbst, wie weit man gehen möchte, und wird dabei therapeutisch unterstützt. Die Inhalte der Schulung basieren auf anerkannten Behandlungsleitlinien für Angststörungen. Der Kurs dauert zwischen zwei und acht Wochen, je nachdem, wie schnell die einzelnen Lektionen bearbeitet werden. Die VR-Brille muss nicht zurückgegeben werden, damit wird ein weiteres Training nach Abschluss des Kurses ermöglicht. Die Behandlung endet mit einem therapeutischen Abschlussgespräch.

Unter dem Stichwort Angststörung finden sich im DiGA-Verzeichnis noch weitere Apps, die allerdings keine VR-Therapie anbieten.

Wie erkläre ich es meinen Kunden?

  • „Ihr Arzt möchte Ihre Angst vor Hunden mithilfe einer VR-Brille therapieren? Versuchen Sie das. Diese Therapieform bringt sehr gute Ergebnisse und Sie sind dabei vollkommen sicher.“
  • „Bitte sagen Sie Ihrem Therapeuten, dass Sie vor einigen Jahren einen epileptischen Anfall hatten. Das ist wichtig, damit er Sie bei Ihrer VR-gestützten Therapie richtig überwacht.“

VR-Krankheit und Epilepsie

Eine häufig beobachtete Nebenwirkung der VR-unterstützten Therapie ist die VR-Krankheit –auch Cybersickness genannt. Die Symptome ähneln denen der Seekrankheit, das heißt, Schwindel, Übelkeit und Unwohlsein sind möglich. Sie entsteht, weil die Augen eine Bewegung erfassen, die der Körper aber gar nicht durchmacht. Die Heftigkeit der VR-Krankheit ist abhängig vom Inhalt und von den technologischen Eigenschaften der VR-Geräte.

Eine mögliche Kontraindikation für eine VR-unterstützte Therapie kann eine photosensitive Epilepsie sein. Dabei lösen schnell wechselnde Kontraste und Farben sowie geometrische Formen auf dem Bildschirm einen epileptischen Anfall aus – besonders problematisch ist der kurze Abstand zwischen Bild und Auge bei VR-Brillen. Wer an Epilepsie erkrankt ist, sollte daher mit dem Therapeuten vorher den Einsatz von VR-Geräten abklären. •

Matthias Bauer

Apotheker

Freudenberg

autor@ptaheute.de