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Ein mRNA-Impfstoff gegen MS?

Ein Forscherteam hat einen möglichen Impfstoff gegen MS entwickelt. | Bild: cherryandbees / AdobeStock

Biontech und dem biopharmazeutischen Forschungsinstitut TRON (Translationale Onkologie) an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist es gelungen, einen Impfstoff gegen Multiple Sklerose zu entwickeln, der in verschiedenen Mausmodellen das Fortschreiten der Erkrankung verhinderte und motorische Funktionen wiederherstellte. Eine Forschergruppe um Christina Krienke veröffentlichte jüngst präklinische Daten zu einem mRNA-Impfstoff, durch den die Krankheitsaktivität in verschiedenen Mausmodellen der Multiplen Sklerose (MS) unterdrückt werden konnte. Eingesetzt wurden Mäuse mit experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE). Sie sind klinisch relevante Mausmodelle für MS beim Menschen. Die Wissenschaftler veröffentlichten ihre Arbeit in der Fachzeitschrift „Science“"A non-inflammatory mRNA vaccine for treatment of experimental autoimmune encephalomyelitis" . Die gute Botschaft vorweg: „In Mausmodellen von MS verzögerte der Impfstoff den Ausbruch und reduzierte den Schweregrad bei bestehender Erkrankung, ohne dass Symptome einer allgemeinen Immunsuppression auftraten“, heißt es in der Originalarbeit.

Toleranz gegen MS-spezifische Autoantigene

Der mRNA-Impfstoff von Biontech verfolgt einen völlig anderen Ansatz als bisherige Wirkstoffe. Versucht man bisher bei MS die überschießende Immunreaktion abzufangen z. B. durch Antikörper gegen CD20+-B-Zellen (Ocrelizumab in Ocrevus®) oder indem bestimmte weiße Blutkörperchen, T-Lymphozyten, in den Lymphknoten zurückgehalten werden und nicht ins Zentralnervensystem einwandern können, um die Myelinscheiden zu schädigen (Fingolimod in Gilenya®), zielt die Impfung darauf ab, dass der Körper eine Toleranz gegen Antigene entwickelt, die mit Multipler Sklerose assoziiert sind. Eine Antigen-spezifische Toleranz würde selektiv die Erkrankung auslösende Autoimmunität schwächen – ohne die normale Immunfunktion zu beeinträchtigen, schreiben die Wissenschaftlerinnen. Diese Toleranz entsteht, wenn die Antigene von spezialisierten Zellen (Antigen-präsentierende Zellen, APC) präsentiert werden, ohne dass costimulatorische Signale exprimiert werden. 

Durch eine Fehlfunktion des Immunsystems und dadurch bedingte Entzündungsreaktionen werden bei MS die Nervenfasern umgebenden und schützenden Myelinscheiden zerstört – es kommt zu motorischen und neurologischen Symptomen, da die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen und dem Zielgewebe unterbrochen wird. Unter anderem spielen autoreaktive T-Zellen hier eine wichtige Rolle.

Modifizierte mRNA

In der Studie wurde ein entzündungshemmender Nanopartikel-mRNA-Impfstoffkandidat eingesetzt. Hierfür hatten die Wissenschaftlerinnen die mRNA Nukleosid-modifiziert und Uridin gegen 1-Methylpseudouridin ersetzt und doppelsträngige mRNA-Fragmente entfernt, was die entzündlichen Eigenschaften von einzelsträngiger mRNA reduziert, wenn diese in den Körper eingebracht wird. Dadurch soll eine tolerogene (eine Immuntoleranz bewirkende) Antigenpräsentation ermöglicht werden, ohne unerwünschte Entzündungseffekte hervorzurufen.

Zur Erklärung: 

Das Impfen von mRNA induziert eine Immunantwort, unter anderem werden Typ-1-T-Helferzellen (TH1) durch hohe Konzentrationen von Interferon-α (IFN-α), welches von Antigen-präsentierenden Zellen freigesetzt wird, aktiviert, und es werden Entzündungen ausgelöst. Durch Modifikation der mRNA sollen diese unerwünschten entzündlichen Eigenschaften reduziert werden.

Verantwortlich für die Präsentation der Antigene sind spezielle Zellen des Immunsystems, sogenannte Antigen-präsentierende Zellen (APCs), dazu gehören beispielsweise dendritische Zellen (auch Monozyten und Makrophagen [Fresszellen] sowie B-Zellen). 

Der Impfstoff wurde also so konzipiert, dass er das kodierte MS-assoziierte Antigen zu dendritischen Zellen in den Lymphknoten des ganzen Körpers liefert – diese präsentieren das Antigen vor allem T-Lymphozyten – und dabei jedoch eine Entzündungsreaktion vermeidet. Dies ermöglicht eine körperweite Präsentation der Zielantigene in Lymphgeweben, wodurch eine Immuntoleranz gegen diese Antigene induziert wird. Der Biontech-Impfstoffkandidat enthält kein Adjuvans.

Krankheitsaktivität, Autoantikörper, selektive Immunsuppression?

Die EAE-Mäuse wurden mit dem entzündungshemmenden Nanopartikel-mRNA-Impfstoffkandidaten, der für ein MS-assoziiertes Antigen kodiert, geimpft. In verschiedenen Modellen untersuchten die Wissenschaftlerinnen sodann, wie sich das MS-assoziierte Antigen auf die Krankheitsaktivität der MS-Mäuse auswirkt. Daneben interessierte sie auch, ob sich durch mehrmalige Applikation Autoantikörper bilden oder die Immunreaktion gegen andere Antigene (im Versuch: Hämagglutinin von Influenzaviren) unterdrückt wird, sodass eine Immunantwort des Geimpften auf Krankheitserreger unter Umständen verringert und dieser anfälliger für Infektionen wäre.

Unterdrückung autoreaktiver T-Effektorzellen

Die Wissenschaftlerinnen konnten nachweisen, dass die nanopartikuläre Verabreichung von Nukleosid-modifizierter Autoantigen-kodierender mRNA (in lymphoide CD11c+ antigenpräsentierende Zellen) ein therapeutischer Ansatz sein könnte. Denn die Impfung – und die selektive Präsentation von MS-Autoantigenen – führte zur Expansion von regulatorischen T-Zellen (Treg). Diese unterdrückten laut den Forschenden nicht nur Antigen-spezifische autoreaktive T-Effektorzellen (Teff), sondern übten auch eine „Bystander“-Immunsuppression aus, die letztlich die Krankheitskontrolle ermöglicht. 

Zur Erklärung:

Die Intensität einer Immunantwort muss ständig kontrolliert werden, denn auf der einen Seite soll unser Immunsystem natürlich entartete Zellen, wie Tumorzellen, oder Erreger erkennen und zerstören, auf der anderen Seite soll die Immunreaktion jedoch nicht überschießen und sich gegen körpereigene Strukturen richten. Diese Immunkontrolle fällt zu Teilen regulatorischen T-Zellen zu. Ein „Bystander“-Effekt hätte zudem folgende Vorteile: Die T-Effektorzellen unterdrücken sodann nicht nur autoreaktive T-Zellen speziell gegen das geimpfte Antigen, sondern auch gegen andere myelinspezifische Autoantigene. Nicht immer sind bei Autoimmunerkrankungen alle verantwortlichen Antigene bekannt. Durch die „Bystander“-Immunsuppression wäre auch eine Krankheitskontrolle bei polyklonalen Autoimmunitäten möglich.

Wirkt die Impfung nur gegen MS – oder wird das gesamte Immunsystem lahmgelegt?

In einem Modell, in dem die Mäuse nach mRNA-Impfung Hämagglutinin-Antigen (Oberflächenprotein von Influenzaviren) erhielten, konnten Krienke et al. außerdem nachweisen, dass eine MOG35-55 m1Ψ mRNA-induzierte Immunantwort sich ausschließlich gegen das MS-Antigen richtete und eine funktionelle Immunantwort gegen Nicht-Myelin-Antigene nicht unterdrückte – es kommt damit zu keiner allgemeinen Immunsuppression. Biontech erklärt hierzu: „Wichtig ist, dass der präklinische Impfstoffkandidat keine Immunreaktionen gegen andere, Nicht-Myelin-Antigene (z. B. Antigene des Influenza-Impfstoffs) unterdrückt hat und somit in den Untersuchungen eine der zentralen Herausforderungen bei der Behandlung von Autoimmunerkrankungen adressiert: die Induktion einer unspezifischen, systemischen Immunsuppression.“

mRNA-Impfstoff verhindert symptomatische Krankheit und stellt Funktionen wieder her

In einer Mitteilung fasst Biontech die positiven präklinischen Daten zusammen: „Der Impfstoff konnte in allen untersuchten EAE-Mausmodellen eine symptomatische Krankheit verhindern oder, in Mäusen mit bestehender Krankheit im Frühstadium, das Fortschreiten der Krankheit verhindern und motorische Funktionen wiederherstellen.“ Die Einwanderung entzündungsfördernder Effektor-T-Zellen (Teff) in Gehirn und Rückenmark sowie die De-Myelinisierung des Rückenmarks konnten „deutlich reduziert“ werden. Und weiter: „Diese Effekte wurden durch die Induktion krankheitsunterdrückender regulatorischer T-Zellen (Treg) erzielt, welche sich ausschließlich gegen das Impfstoff-kodierte Antigen richten.“ Der „Bystander“-Effekt ermögliche bei komplexen Erkrankungen auch die Kontrolle anderer krankheitsspezifischer Antigene, was essenziell sei, um zum Teil unbekannte Antigene und die „inter-individuelle Heterogenität zwischen einzelnen Patienten“ zu adressieren.

„Krankheitsbezogenes Kompetenznetz Multiple Sklerose“ warnt vor Euphorie

In einer Pressemitteilung erklärt das „Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose“ (KKNMS), dass die Ergebnisse von Krienke et al. „Hoffnungen bei MS-Betroffenen wecken“. Die Studie sei „höchstwertig und wissenschaftlich von größter Bedeutung“, sie dokumentiere erneut auch das Potenzial der mRNA-Vakzinierungsstrategie insgesamt. Doch die KKNMS relativiert die mediale Euphorie ein Stück weit: „Was in Mäusen mit experimenteller autoimmuner Enzephalomyelitis als Impfstrategie funktioniert, ist als Strategie für eine Autoimmunerkrankung beim Menschen nicht so einfach zu übersetzen.“ Hauptproblem beim Menschen – im Gegensatz zum Tiermodell – sei, dass die Zielantigene bei der MS nicht bekannt sind. Über Jahrzehnte hätten Wissenschaftler bereits versucht, die für Multiple Sklerose relevanten Antigene zu identifizieren, dies gelang jedoch nicht. So hätten in den 90er Jahren Antigen-spezifische Therapieansätze bei der Übertragung aus Laborbedingungen auf den Menschen sogar teilweise unerwartet zu einer Verstärkung der Entzündung im Gehirn geführt, die Immunantwort gegen das ZNS sei befördert und nicht unterdrückt worden. „Eine Autoimmunkrankheit wie die Multiple Sklerose ist im Kontext der entwickelten Impfung damit nicht gleichzusetzen mit einer Infektion, die ja eine sehr gerichtete Antwort auf sehr definierte (Virus)Antigene darstellt“, erklärt das KKNMS weiter. Die Strategie eine „Impfung gegen MS“ zu entwickeln, sei zwar charmant und wissenschaftlich ein hochwertvolles Ziel, es fehle aber beim Menschen nicht die richtige Labortechnik, sondern die Biologie der Entzündungsprozesse bei der MS sei ganz anders zu bewerten als bei einer Infektion.

Um diese Zweifel (hoffentlich) auszuräumen, ist noch ein Stück Weg zu gehen. Nach präklinischen Studien dürfte Biontech seinen vielversprechenden Impfstoffkandidaten weiter klinisch untersuchen.