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Leseprobe PTAheute 13+14/2021: Nacht für Nacht? Schlafstörung durch Schichtarbeit

Quelle: aydinmutlu / iStockphoto.com

Von Schlafstörungen sind etwa zehn bis 20 % der Erwachsenen mehr oder weniger häufig betroffen. Viele davon wissen gar nicht so genau, warum sie schlecht schlafen. Anders ist das bei Schlafstörungen, die durch Schichtarbeit bedingt sind. Je nach Tätigkeitsbereich erfolgt dabei alle paar Tage ein Wechsel zwischen Früh-, Spät- und Nachtschichten. Das führt dazu, dass der Tagesablauf immer wieder umprogrammiert und dabei auch gegen den Biorhythmus organisiert werden muss. Schließlich gehören wir Menschen von Natur aus zu den tagaktiven Lebewesen.

Natürlicher Rhythmus gestört

Unsere Körperprozesse unterliegen einer zirkadianen Rhythmik. Manche Hormone werden zum Beispiel zu bestimmten Tageszeiten vermehrt ausgeschüttet. Der Schlaf-wach-Rhythmus hängt stark vom Licht ab. Wenn die Dämmerung einsetzt, registriert die Netzhaut des Auges den abnehmenden Lichteinfall und sendet das Signal „Es wird dunkel“ an das Gehirn. Dieses sorgt dann dafür, dass vermehrt Melatonin gebildet und freigesetzt wird. Melatonin ist ein Hormon, das dazu beiträgt, die innere Uhr mit dem Tag-Nacht-Zyklus zusammenzuführen, indem es bei Dunkelheit die Schlafneigung erhöht. Die höchsten Blutkonzentrationen des Hormons liegen zwischen zwei und vier Uhr nachts vor. Das ist auch die Uhrzeit, zu der das Schlafbedürfnis besonders groß ist. Schwierig, wenn man genau zu dieser Zeit arbeiten und die Schlafzeiten zwangsläufig entgegen dem natürlichen Rhythmus auf den Tag verschieben muss.

Müdigkeit vs. innere Uhr – wer gewinnt?

So geht es beispielsweise Luna, die gerade ihren Nachtdienst beendet hat. Schon in den letzten Arbeitsstunden war es für die Medizinerin eine echte Herausforderung, hochkonzentriert ihre Arbeit auszuüben. Jetzt ist es sechs Uhr morgens, die Sonne geht gerade auf. Zu Hause angekommen, erwartet die Mutter dreier Kinder bereits der übliche Morgenwahnsinn: Das Frühstück muss organisiert werden, die Kinder dürfen den Bus zur Schule nicht verpassen, der Ehemann bereitet sich auf seinen Arbeitstag vor. Dann, um acht Uhr, sind alle aus dem Haus. Jetzt könnte Luna sich ein bisschen ausruhen, aber es ist helllichter Tag. Ein innerer Kampf beginnt: Einerseits sind da das Schlafdefizit und das Gefühl, schlafen zu müssen, um für den Beginn der nächsten Nachtschicht wieder arbeitsfähig zu sein. Dagegen arbeitet die innere Uhr, die auf „Wachsein“ programmiert ist. Helligkeit, Umgebungstemperatur und -geräusche tun ihr Übriges, um baldiges Einschlafen zu verhindern.

Vorsicht vor Chronifizierung

Auch wenn irgendwann die Müdigkeit überwiegt – so erholsam wie ein richtiger Nachtschlaf ist der Schlaf am Tag meistens dann doch nicht. Die Folge: In der nächsten Schicht ist der Betroffene müde, unkonzentriert und macht leichter Fehler, was natürlich auch die Unfallgefahr erhöht. Dauert dieser Zustand länger an, spricht man vom chronischen Schichtarbeitersyndrom. Dieses ist mit einer ganzen Reihe weiterer möglicher Folgen verbunden, von Beschwerden im Magen-Darm-Bereich über Kopf- und Rückenschmerzen bis hin zu Herzerkrankungen. Darüber hinaus wird Schichtarbeit auch mit einem erhöhten Risiko für Tumorerkrankungen oder psychische Probleme in Verbindung gebracht.

Wie gut die Schichtarbeit weggesteckt wird, ist natürlich sehr unterschiedlich und hängt neben der Art bzw. Häufigkeit der Nachtschichten vor allem von der persönlichen Empfindlichkeit ab. Manch einer ist schon immer eine Nachteule gewesen, anderen bereitet das nächtliche Wachbleiben größere Probleme. Häufig stecken jüngere Arbeitnehmer die Belastungen noch besser weg, wohingegen sich ältere nach vielen Jahren im Schichtdienst oft ausgebrannt fühlen. Ein paar Maßnahmen können dazu beitragen, die Schichtarbeit etwas zu erleichtern.

Sich zu helfen wissen

Luna hat zum Beispiel ihren Arbeitsbereich mit einer speziellen Nachtbeleuchtung ausgestattet. Darüber, welches Licht bei Nachtarbeit optimal ist, herrscht Uneinigkeit. Über Licht mit hohem Blauanteil (wie zum Beispiel auch das von Fernsehern oder Smartphones) ist bekannt, dass es die Melatonin-Synthese hemmt. Das ist während der Nachtschicht ja eigentlich erwünscht, kann jedoch den Schlafrhythmus noch stärker durcheinanderbringen. Diesbezüglich hat sich oranges, blaugefiltertes Licht als geeigneter erwiesen.

Um während der Nachtschicht wach zu bleiben, greift Luna gerne zu Kaffee – jedoch nur in der ersten Nachthälfte. In dieser Zeit nimmt sie außerdem kleinere, leichte Mahlzeiten zu sich. Auf späteren Kaffeekonsum oder ein gemeinsames Frühstück mit der Familie verzichtet sie, damit sie anschließend besser einschlafen kann.

Überhaupt unternimmt die Ärztin alles, um nach der Schicht möglichst schnell „herunterzukommen“. Während sie normalerweise mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, wählt sie bei Nachtdiensten den Bus und verschiebt die körperliche Aktivität auf den Nachmittag. Unterwegs trägt sie eine Sonnenbrille, die das Tageslicht zu einem gewissen Grad von ihr fernhält. Zum Glück sind Ehemann und Kinder bemüht, sich rücksichtsvoll zu verhalten, keinen unnötigen Lärm zu verursachen und die Mutter aus der morgendlichen Organisation herauszuhalten. Damit sie wirklich nicht gestört wird, stellt Luna Telefon und Klingel aus und hört eine CD mit entspannender Musik. Das Schlafzimmer lässt sich komplett abdunkeln (Alternative: Schlafmaske) und es liegt nach hinten zum Hof hin, wo vom Verkehrslärm relativ wenig zu hören ist. Luna legt sich aber erst schlafen, wenn sie merkt, dass sie müde wird.

Nicht jeder kommt mit solchen Schlafhygiene-Maßnahmen aus, sodass sich viele Arbeitnehmer Unterstützung durch Medikamente wünschen.

Medikamentöse Unterstützung

Beliebt bei Schlafstörungen sind H1-Antihistaminika der ersten Generation wie Doxylamin (z. B. Hoggar® Night) und Diphenhydramin (z. B. Vivinox® sleep). Sie sind jedoch nicht in jedem Fall geeignet und dürfen generell nur kurzzeitig (maximal zwei Wochen) angewendet werden, da sie schnell zu Gewöhnungseffekten führen. Bei Schichtarbeitern besteht die Problematik jedoch in der Regel über einen längeren Zeitraum. Dazu kommt, dass die Wirkstoffe den Schlafphasenrhythmus beeinflussen. Für Schichtarbeiter kann bei diesen Substanzen außerdem ein Hangover-Effekt zum Problem werden, wenn keine ausreichend lange Schlafdauer möglich ist.

Pflanzliche Sedativa können dagegen über einen längeren Zeitraum eingenommen werden, ihre volle Wirksamkeit entfalten sie ohnehin erst nach einigen Tagen bis Wochen. Sie wirken vor allem dadurch, dass sie Anspannungen lösen und dadurch die Schlafbereitschaft fördern. Für Inhaltsstoffe aus Baldrianwurzel konnte herausgefunden werden, dass sie die dämpfende Wirkung des Neurotransmitters Gamma-Aminobuttersäure (GABA) verstärken und zudem über Adenosin-Rezeptoren eine erhöhte Schlafbereitschaft vermitteln. Bei der Auswahl eines Präparates muss darauf geachtet werden, dass es ausreichend hohe Wirkstoffmengen enthält. Dafür ist neben der Extraktmenge auch das angegebene Drogen-Extrakt-Verhältnis (DEV) zu beachten. Für eine gute Wirksamkeit sind zwei bis drei Gramm Ausgangsdroge erforderlich.

Baldrian ist in Monopräparaten (z. B. Baldriparan®) sowie in Kombination mit Hopfen (z. B. Baldrian dispert® Nacht oder Alluna®) oder Dreierkombinationen mit Passionsblumenkraut (z. B. Kytta® Sedativum) oder Melissenblättern (z. B. Sedacur® forte) im Handel. Da die pflanzlichen Sedativa gut verträglich sind und die Schlafphasen nicht beeinflussen, spricht meist nichts gegen einen Therapieversuch.

Wie erkläre ich es meinem Kunden?

  • „Am besten wäre es natürlich, wenn Sie es hinkriegen könnten, einen Rhythmus zu bekommen. Damit meine ich, dass Sie morgens nach der Schicht gut runterkommen und dann von selber müde werden. Viele Menschen schaffen das zum Beispiel durch wenig Tageslicht, wenig Bewegung nach der Schicht, Entspannungsmusik hören und weitere derartige Maßnahmen.“
  • „Diese pflanzlichen Tabletten helfen Ihnen dabei, zur Ruhe zu kommen und dadurch besser einzuschlafen. Sie können sie durchaus über einen längeren Zeitraum einnehmen.“

Einfach das Schlafhormon ersetzen?

Besonders attraktiv erscheint die Option, das Schlafhormon Melatonin von außen zuzuführen. Es erhöht die Schlafbereitschaft, wirkt dabei aber nicht sedierend. Laut Arzneimittelverschreibungsverordnung ist Melatonin, unabhängig von der Dosis, verschreibungspflichtig. Trotzdem befindet sich auf dem Markt eine ganze Reihe Melatonin-haltiger Nahrungsergänzungsmittel (z. B. Cefanight® in verschiedenen Darreichungsformen), viele davon in Kombination mit pflanzlichen Sedativa (z. B. Dr. Theiss Melatonin Einschlaf-Spray, Dr. Böhm® Einschlaf plus Dragees, Wick ZzzQuil) bzw. Vitaminen und Mineralstoffen (z. B. Pure Encapsulations® Schlaf Formel, Orthomol Nemuri Night). Wie diese rechtlich einzuordnen sind, wird seit Jahren diskutiert.

Ein Cochrane-Review aus dem Jahr 2014 lieferte Hinweise darauf, dass Melatonin die Schlafdauer bei Schichtarbeitern verbessern kann, wobei darüber diskutiert wird, ob die Gabe abends (dem natürlichen Rhythmus entsprechend) oder morgens (vor dem geplanten Schlaf) erfolgen soll. Zu beachten ist auch, dass Melatonin nur eine kurze Halbwertszeit hat. Die verschreibungspflichtigen Medikamente sind daher als Retardformen im Handel, die Nahrungsergänzungsmittel dagegen üblicherweise nicht retardiert in Form von Ta­bletten, Granulat oder Sprays.

Schlafmediziner hinzuziehen

Bestehen die Probleme länger, sollte ein Arzt hinzugezogen werden, möglichst ein Schlafmediziner. Unter Umständen sind zumindest kurzzeitig verschreibungspflichtige Medikamente erforderlich. Die dafür üblichen Benzodiazepine und Z-Substanzen (Zolpidem, Zopiclon) kommen für Schichtarbeiter jedoch nur eingeschränkt in­frage, da je nach Wirkdauer der jeweiligen Substanz ein Hangover-Effekt zu befürchten ist. Fertigarzneimittel mit Melatonin sind nur für bestimmte Personengruppen zugelassen (z. B. Circadin® ab 55 Jahren, Slenyto von zwei bis 18 Jahren bei bestimmten Erkrankungen).

Ein neues Medikament mit dem Wirkstoff Suvorexant ist in Japan und den USA auf dem Markt. Es blockiert Rezeptoren für Hypocretine, das sind Hormone, die die Aufwach-Reaktion steuern. In Studien hat sich herausgestellt, dass Schichtarbeiter damit tagsüber deutlich länger und auch erholsamer schlafen können.

Um Unfälle durch extreme Müdigkeit während der Nachtschichten zu verhindern, wurde neben Coffein auch das Sympathomimetikum Modafinil (z. B. Vigil®) als „Wachhalter“ bei Schichtarbeitern eingesetzt. Allerdings hat dieser Wirkstoff erhebliche Nebenwirkungen und ist daher nur noch für Narkolepsie-Patienten zugelassen.

Gesundheit geht vor

Nun ist es natürlich eine sehr fragliche Option, dauerhaft Medikamente einzunehmen, um der Arbeit nachgehen zu können. Bevor die Gesundheit auf der Strecke bleibt, sollte mit dem Arbeitgeber nach alternativen Lösungen gesucht werden. Vielleicht lässt sich die Schichtenabfolge anders organisieren. Sonst kann ein Arzt eine Nachtdienstuntauglichkeit bescheinigen. 

Das Wichtigste in Kürze

  • Bei Schichtarbeit, insbesondere Nachtschichten, kommt es zu Konflikten mit dem natürlichen zirkadianen Rhythmus.
  • Fällt die Schlafzeit auf den Tag, werden Schlafdauer und -qualität gemindert, was zu ernsthaften Langzeitfolgen führen kann.
  • Bei derartigen Schlafstörungen ist ein Therapieversuch mit pflanzlichen Sedativa in der Selbstmedikation möglich.
  • Die Rechtslage zu Melatonin ist unklar: Laut Arzneimittelverschreibungsverordnung ist das Schlafhormon verschreibungspflichtig. Nahrungsergänzungsmittel sind dennoch im Handel.