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Borreliose-Prophylaxe: Sollte jeder Zecken­gestochene einmalig Doxycyclin erhalten?

Für wen ist eine Borreliose-Prophylaxe nach einem Zeckenstich sinnvoll? | Bild: Engel73 / AdobeStock

Gegen die von Zecken übertragene Infektionserkrankung Borreliose kann man derzeit nicht impfen. Kommt es nach einem Zeckenstich zu einer Borreliose, helfen meist Antibiotika.

Doch wäre es nicht klug, nicht erst bei Auftreten des häufigsten Borreliose-Symptoms – der Wanderröte – antibiotisch aktiv zu werden, sondern direkt, nachdem man die Zecke entfernt hat? Dem stehen Nebenwirkungen einer unter Umständen unnötigen Antibiose entgegen, denn nicht jede Zecke trägt Borrelien in sich. 

Dieses Dilemma ist nicht neu. Seit Jahren diskutieren Fachgesellschaften darüber – und kommen bei ihren Empfehlungen durchaus zu unterschiedlichen Aussagen.

Zur Erinnerung: Was ist Borreliose?

Borreliose oder Lyme-Borreliose wird durch Bakterien – Borrelien – verursacht, die durch Zecken übertragen werden. Das Robert Koch-Institut (RKI) geht davon aus, dass eine klinisch manifeste Erkrankung bei 0,3 bis 1,4 Prozent der Menschen mit Zeckenstichen vorkommt. 

Die nach drei bis 30 Tagen nach einem Zeckenstich auftretende Wanderröte – das Erythema migrans – ist mit 89 Prozent das häufigste Symptom einer Borreliose. 

Seltener manifestiert sich eine Borreliose auch im Nervengewebe (Neuroborreliose), an Gelenken (Lyme-Arthritis) oder am Herzen (Lyme-Karditis). Diese können sich allerdings noch deutlich nach einem Zeckenstich entwickeln. 

Schwere Krankheitsverläufe lassen sich meist verhindern und die Patienten erholen sich wieder vollständig, wenn sie im Frühstadium einer Borreliose ein Antibiotikum erhalten. Als Mittel der Wahl gelten orales Doxycyclin oder Amoxicillin, alternativ kommen auch Cefuroximaxetil oder Azithromycin zum Einsatz.

Keine routinemäßige Antibiotikaprophylaxe in Deutschland

So rät seit 2016 die deutsche S2k-Leitlinie „Kutane Lyme-Borreliose“ (gültig bis Ende März 2021) davon ab, routinemäßig nach einem Zeckenstich prophylaktisch ein Antibiotikum anzuwenden oder die Zecke auf Borrelien-Erreger zu untersuchen. Sie schreibt: „Eine lokale oder systemische prophylaktische antibiotische Behandlung nach Zeckenstich wird nicht empfohlen.“ 

Stattdessen empfiehlt sie zur Prophylaxe von Zeckenstichen und Borreliose bedeckende Kleidung zu tragen und die Haut nach Aufenthalten im Freien mit möglichem Zeckenkontakt auf Zecken abzusuchen und diese sodann so rasch wie möglich zu entfernen. 

Die Zeckengestochenen sollten die Stichstelle sechs Wochen lang beobachten. Auch Repellenzien seien eine Option zur Zeckenabwehr, allerdings raten die Leitlinienautoren dazu nur mit Einschränkung.

IDSA rät zur Antibiotikaprophylaxe bei Hochrisikozeckenstichen

Anders die IDSA(Infectious Diseases Society of America) , die amerikanische Gesellschaft für Infektionserkrankungen: Sie rät bei Stichen mit Hochrisikozecken (Zeckenstiche von Ixodes ssp., Zeckenstiche in einem hochendemischen Zeckengebiet oder wenn die Zecke mindestens 36 Stunden saß) zu einer Antibiotikaprophylaxe – und zwar für Kinder und Erwachsene. Als Mittel der Wahl empfiehlt sie eine einmalige orale Gabe von Doxycyclin. Erwachsene sollten 200 mg einnehmen, Kinder sollten entsprechend ihres Körpergewichts Doxycyclin mit 4,4 mg/ kg KG bis höchstens 200 mg erhalten. 

Auch die Internationale Borreliose-Gesellschaft (ILADS)(International Lyme and Associated Diseases Society)  hat eine Meinung zur generellen Antibiotikaprophylaxe nach Zeckenstich. Ihre Empfehlung seit 2014: keine routinemäßige Prophylaxe mit einmalig 200 mg Doxycyclin. Es sei unwahrscheinlich, dass dies „hochwirksam“ sei. Für effektiver erachtet sie es, wenn Zeckengestochene 20 Tage lang Doxycyclin einnähmen, diese Empfehlung stützt sie auf Tierstudien. 

Meta-Analyse liefert neue Daten

Die Empfehlungen sind so vielzählig wie die Fachgesellschaften. Nun gibt es frische Daten, die im November 2021 im Fachjournal „BMC Infectious Diseases“ veröffentlicht wurden. Es handelt sich dabei um eine Meta-Analyse, d. h. die Wissenschaftler haben die verfügbaren Studien zusammengefasst, um ihr Ergebnis abzuleiten. 

Dafür durchsuchten sie mehrere wissenschaftliche Datenbanken und schlossen in ihre Auswertung ausschließlich Studien ein, wenn 72 Stunden nach einem Zeckenstich noch keine Anzeichen einer Borreliose vorhanden waren. 

Zwar fanden die Wissenschaftler 4.515 Studien, doch genügten nur sechs Arbeiten ihren Anforderungen, sodass sie Daten zu insgesamt 3.766 Menschen – von denen 56 eine Borreliose entwickelten – auswerten konnten. 

In drei Studien hatten die Zeckengestochenen in der Behandlungsgruppe für zehn Tage orale Antibiotika (Amoxicillin, Penicillin oder Tetracyclin) erhalten, in zwei Studien einmalig 200 mg Doxycyclin und eine Arbeit hat die Wirkung von topischem Azithromycin untersucht.

Orale Prophylaxe reduziert Borreliose-Risiko

Zeckengestochene, die eine antibiotische Prophylaxe erhielten, erkrankten seltener an Borreliose als die Personen in der Kontrollgruppe (0,4 Prozent versus 2,2 Prozent). Das Risiko war damit um 62 Prozent reduziert. 

Allerdings waren nicht alle Einzelgruppenanalysen statistisch signifikant: Demnach scheinen die topische Azithromycin-Therapie und die zehntägige Antibiose weniger effektiv zu sein als die Einmalgabe von Doxycyclin. Betrachtet man die einmalige Doxycyclintherapie separat, kam es unter Doxycyclin zu 0,8 Prozent Borreliose-Erkrankungen, in der Kontrollgruppe erkrankten hingegen 3 Prozent. 

Die Wissenschaftler ziehen den Schluss: „Unsere Subgruppenanalyse ergab, dass Patienten, die eine Einzeldosis Doxycyclin (200 mg) erhielten, ein geringeres Risiko hatten, eine Lyme-Borreliose zu entwickeln, als Patienten, die ein Placebo erhielten, während es keine Belege für die Wirksamkeit einer zehntägigen Behandlung und einer Behandlung mit topischen Antibiotika gibt.“ Damit könnten diese Ergebnisse eine einmalige Doxycyclin-Prophylaxe nach Zeckenstich stützen, so die Studienautoren.

Routinemäßige Prophylaxe nicht sinnvoll

Einer generellen antibiotischen Doxycyclin-Prophylaxe stehen jedoch die Nebenwirkungen entgegen, ebenso wie dass Borreliose ein relativ seltenes Ereignis ist. Die Wissenschaftler schätzen, dass bei einer routinemäßigen Doxycyclin-Prophylaxe 50 von Zecken gestochene Menschen ein Antibiotikum erhalten müssten, um einen Borreliose-Fall zu verhindern – das heißt, 49 Personen hätten die Antibiose unnötigerweise erhalten. Sinnvoll wäre es also, Risikogruppen zu definieren, bei denen eine Borreliose-Erkrankung wahrscheinlicher ist. Doch wann ist ein Zeckenstich „risikoreich“?

Gut zu wissen: Warum man Zecken rasch entfernen sollte

Die krankheitsauslösenden Borrelien befinden sich in der nüchternen Zecke im Darm und das Risiko einer Übertragung auf den Menschen steigt mit Dauer der Blutmahlzeit. Daher ist die frühzeitige Entfernung der Zecke die wichtigste Maßnahme nach einem erfolgten Stich. 

Faktoren für eine erhöhte Borreliose-Gefahr

Schaut man in der ILADS-Leitlinie nach, so gilt ein Zeckenstich erst dann als risikoreich, wenn die Zecke mehr als 36 Stunden festsaß. Allerdings sitzen mehr als die Hälfte (52,5 Prozent) der Zecken weniger als 36 Stunden„Assessment of Duration of Tick Feeding by the Scutal Index Reduces Need for Antibiotic Prophylaxis After Ixodes scapularis Tick Bites“
veröffentlicht in Clinical Infectious Diseases
 
. Demnach würde etwa die Hälfte aller Zeckengestochenen keine Antibiose erhalten. 

Daneben könnte es eine Rolle spielen, wie alt die Zecke ist. So führte einer 2001 im „New England Journal of Medicine(„Prophylaxis with Single-Dose Doxycycline for the Prevention of Lyme Disease after an Ixodes scapularis Tick Bite“)  veröffentlichten Arbeit zufolge der Stich einer Nymphenzecke häufiger zu einer Wanderröte als der Stich einer erwachsenen Zecke (5,6 Prozent vs. 0 Prozent). 

Auch sinke die Infektionswahrscheinlichkeit, wenn die Zecke noch nicht vollständig vollgesogen sei. 

Diese Ergebnisse könnten wertvolle Informationen für die Praxis liefern, bedürfen aber weiterer Bestätigung, finden die Wissenschaftler.