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Leseprobe PTAheute 17/2020: Diabulimie – Weniger ist weniger?

Bild: agrobacter – iStockphoto.com

Sogar unter Ärzten ist die Krankheit wenig bekannt, dennoch leidet nach einer Studie aus Norwegen etwa jede dritte Frau unter 30 Jahren mit Typ-1-Diabetes unter einer Diabulimie. Vor allem in der Pubertät und als junge Erwachsene ist vielen eine schlanke Figur überaus wichtig. Bei einer Essstörung regulieren Betroffene ihr Gewicht, indem sie extrem wenig essen, absichtlich erbrechen oder missbräuchlich Abführmittel einnehmen. Typ-1-Diabetiker haben noch eine weitere Möglichkeit: Durch das Weglassen des für sie lebensnotwendigen Insulins kann der Körper die zugeführten Kohlenhydrate nicht mehr verwerten, sie werden über die Nieren ausgeschieden. Trotz ausreichender Nahrungszufuhr nehmen die Patientinnen ab.

Typ-1-Diabetes

Bei einem Typ-1-Diabetes kommt es zu einer irreversiblen Zerstörung der Betazellen in der Bauchspeicheldrüse. Durch eine Fehlreaktion des Immunsystems kann der Körper kein Insulin mehr produzieren und ist fortan auf eine kontinuierliche Insulinzufuhr von außen angewiesen. Meist tritt die Erkrankung im Kindesalter auf, doch auch Erwachsene können noch einen Typ-1-Diabetes bekommen. Die Ursache für die Autoimmunreaktion ist noch nicht geklärt, ebenso wenig, warum seit einigen Jahren die Erkrankungszahlen ansteigen. Es gibt jedoch keinen Zusammenhang zwischen falscher Ernährung oder Übergewicht und dem Auftreten von Typ-1-Diabetes.

Behandlung mit Insulin

Wer früher an Typ-1-Diabetes erkrankte, starb nach wenigen Monaten. Das änderte sich erst, als vor circa 100 Jahren Insulin verfügbar wurde, das sich die Erkrankten zunächst mit einer Glasspritze injizierten. Heute wird Insulin mit Pens gespritzt oder über eine Insulinpumpe abgegeben, die Mengen müssen Diabetiker an die gemessenen Blutzuckerwerte und die geplante Kohlenhydratmenge anpassen. In Zukunft wird das vielleicht automatisiert ablaufen. Erste Systeme, die den Blutzucker eigenständig messen und in gewissem Maß auf zu hohe oder zu niedrige Werte reagieren können, gibt es bereits (closed-loops). Theoretisch können Typ-1-Diabetiker heute ein fast normales Leben führen, strenge Diäten oder „Essen nach der Uhr“ sind nicht mehr erforderlich. Dennoch müssen sich Erkrankte jeden Tag aufs Neue mit ihren Blutzuckerwerten und den Insulinmengen für die Mahlzeiten auseinandersetzen, was viel Disziplin erfordert. Fehleinschätzungen lassen sich trotz sorgfältiger Therapie nicht immer vermeiden, sie führen zu erhöhten Werten oder Unterzuckerungen.

Der Weg in die Diabulimie

Vielen Betroffenen fällt es daher schwer, die Krankheit zu akzeptieren. Insbesondere in der Pubertät möchten viele junge Frauen schlank sein und ihr Selbstbewusstsein ist noch nicht so stark ausgeprägt. In dieser Zeit fällt außerdem die Einhaltung von Regeln, zum Beispiel das Messen des Blutzuckers und die regelmäßigen Insulingaben, extrem schwer. Die chronische Krankheit wird als lästig empfunden und die Behandlung vielleicht auch aus Zeitmangel vernachlässigt. Kommen alle diese Faktoren zusammen, ist der Weg in die Diabulimie nicht mehr weit. Viele wissen, dass sie durch Weglassen des Insulins rasch abnehmen, das haben sie kurz vor der Diabetesdiagnose bereits erlebt. Ein Typ-1-Diabetes wird nämlich erst dann erkannt, wenn die Bauchspeicheldrüse schon fast kein Insulin mehr produziert. In dieser Zeit nehmen die Patienten ab. Erst durch die subcutanen Insulingaben steigt das Gewicht. Wenn die Waage also ein paar Kilos zu viel anzeigt, kann das Gewicht ganz schnell mit dem sogenannten Insulin-Purging (to purge = eliminieren, beseitigen) reduziert werden. Die Patienten essen normal, führen aber deutlich weniger Insulin zu, als für die Mahlzeit benötigt wird, oder lassen ihr Basalinsulin weg. Schnelle „Diäterfolge“ und Komplimente ermutigen weiterzumachen. Dass sie sich damit selbst schaden, bemerken die Patientinnen bald, dennoch glauben viele, die Lage unter Kontrolle zu haben, und machen immer weiter. Die hohen Blutzuckerwerte verdrängen sie, indem sie nur sehr selten messen oder mehrere Messgeräte benutzen, damit es niemandem auffällt. Mit der Zeit geraten viele in eine Sucht und können von selbst nicht mehr damit aufhören.

Das Wichtigste in Kürze

  • Eine Diabulimie tritt vor allem bei jungen Typ-1-Diabetikerinnen auf, die sehr viel Wert auf eine schlanke Figur legen.
  • Durch das Weglassen von Insulin werden die zugeführten Kohlenhydrate über die Nieren ausgeschieden, die Patienten nehmen ab.
  • Die dauerhaft erhöhten Blutzuckerwerte können zu einer lebensbedrohlichen Ketoazidose führen, die intensivmedizinisch behandelt werden muss.

Was passiert im Körper?

Durch die fehlende Insulinzufuhr hungert der Körper förmlich innerlich aus. Zwar ist reichlich Glucose im Blut, aber die Zellen werden nicht mehr versorgt. Nach und nach nehmen die Patientinnen immer weiter ab bis in den untergewichtigen Bereich. Dabei sind sie deutlich weniger leistungsfähig und fühlen sich müde und schlapp. Um die überschüssige Glucose wieder loszuwerden, leisten die Nieren deutlich mehr als sonst. Ab einem Blutzucker von 180 mg/dl (10,0 mmol) wird die Glucose mit dem Urin ausgeschieden, wobei gleichzeitig auch deutlich mehr Flüssigkeit und Elektrolyte heraustransportiert werden. Das führt zu einer Austrocknung und zu einer Azidose (Übersäuerung). Denn um Energie zu gewinnen, stellt der Körper seinen Stoffwechsel auf den Abbau von Fettsäuren anstelle von Glucose um (Lipolyse statt Glycolyse). Dabei fallen als Abfallprodukt Ketonkörper an.

Wie erkläre ich es meinem Kunden?

„Ihre Tochter braucht viel weniger Insulin als früher und hat abgenommen? Wissen Sie, wie hoch ihre Blutzuckerwerte sind? Sprechen Sie unbedingt mit ihr darüber. Wenn sie ihr Insulin absichtlich weglässt, um abzunehmen, schadet sie sich selbst extrem. Das kann lebensbedrohlich sein.“

Ketoazidose erkennen

Dass der Stoffwechsel in solchen Fällen nicht „rundläuft“, können andere Menschen sogar an der Atemluft riechen. Die bei der Lipolyse entstehenden Abfallprodukte werden auch über die Lungen abgeatmet. Die Atemluft riecht nach Aceton, ein unangenehmer fruchtig-fauliger Geruch. Außerdem ist die Atmung vertieft, um die erhöhten Mengen an Kohlendioxid loszuwerden, die bei der Lipolyse ebenfalls entstehen (Kußmaul-Atmung). Weitere Symptome, die bei einer Ketoazidose auftreten können, sind Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, daher wird sie gelegentlich als Magen-Darm-Infekt fehlgedeutet. Die Patienten sind müde, sehr durstig und müssen häufig Wasser lassen. Je nach Ausprägung können sie zunehmend verwirrt wirken und sogar das Bewusstsein vollständig verlieren. Durch die Austrocknung des Körpers kommt es zu einer Tachykardie (Herzrasen) und einer Hypotonie. Nachweisbar ist eine Ketoazidose ferner an Blutzuckerwerten über 250 mg/dl (13,9 mmol), bei Patienten mit einer Diabulimie sind sie häufig weitaus höher. Mithilfe von speziellen Teststreifen (z. B. Ketostix ™, Diastix®) können außerdem Ketonkörper im Urin nachgewiesen werden.

Der Notfall

Eine Ketoazidose ist ein Notfall, bei dem die Patienten umgehend ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Wie schlecht es den Patienten geht, ist dabei nicht so sehr von der Höhe des Blutzuckers, sondern vom Ausmaß der Azidose abhängig. Im Krankenhaus müssen die Patienten auf der Intensivstation behandelt und engmaschig überwacht werden. Der Flüssigkeitsmangel wird mit isotonischer Kochsalzlösung behandelt – zu Beginn können sechs Liter an einem Tag nötig sein. Zusätzlich erhalten die Patienten Kalium, um die Elektrolytspiegel im Gleichgewicht zu halten. Die erhöhten Blutzuckerwerte werden mit intravenösen Insulingaben über einen Perfusor behandelt, da diese Therapie am besten steuerbar ist. Wichtig ist, dass der Patient ständig überwacht wird. Sinkt der Blutzucker zu rasch, kann das zu einem Hirnödem führen, dann wird trotz der extrem hohen Blutzuckerwerte Glucose gegeben. Auch heute ist eine Ketoazidose lebensbedrohlich, zwei bis 14 Prozent der Patienten überleben nicht.

Wie behandeln?

Ebenso wie bei anderen Essstörungen ist die Behandlung der Diabulimie sehr schwierig. Betroffene erkennen häufig nicht von selbst, dass sie Hilfe benötigen, obwohl sie sich schlecht fühlen. Im Anfangsstadium der Sucht schämen sich viele zu sehr, um das Thema mit ihrem Arzt zu besprechen, und nehmen Kontrolltermine nur eingeschränkt wahr. Auch wenn die Patienten bereits ein diabetisches Koma mit Aufenthalt auf der Intensivstation hinter sich haben, kann die Sucht so stark sein, dass sie wieder in den Teufelskreis „wenig Insulin = schlanke Figur“ abrutschen. Hilfe durch die Angehörigen und eine psychodiabetologische Betreuung, zum Beispiel in einer Klinik für Essstörungen, sind daher sehr wichtig. Wird die Erkrankung nicht behandelt, können bereits bei jungen Menschen irreversible diabetische Folgeschäden zum Beispiel an den Augen oder den Nieren auftreten.