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Zu viel Morganella im Mikrobiom: Bakterien als Auslöser für Depressionen?

Dass das Mikrobiom mit Depressionen in Zusammenhang stehen kann, wird schon lange vermutet. Nun wurde möglicherweise ein dafür verantwortliches Bakterium identifiziert. | Bild: Srdjan / AdobeStock

Wir sehen sie nicht, dennoch spielen sie für unsere Gesundheit eine eminente Rolle: die Billionen von Bakterien in und auf unserem Körper, die unser Mikrobiom bilden. 

Dass unsere bakterielle Ausstattung bei zahlreichen Erkrankungen eine Rolle spielt, kristallisiert sich immer mehr heraus. So sind beispielsweise bei MS-Patienten ganze Netzwerke an Bakterienfamilien verändert. Von diesen Bakterien gebildete kurzkettige Fettsäuren, wie Propionsäure, sind im Stuhl und Blut von MS-Patienten deutlich vermindert. 

Psychische Störungen durch entzündungsfördernde Bakterien?

Auch bei Depressionen lohnt ein Blick auf das Mikrobiom. So unterscheidet sich das Mikrobiom von Menschen mit Depressionen von dem von Gesunden – und auch hier geht es um kurzkettige Fettsäuren und die Bakterien, die sie herstellen. 

Wissenschaftler fanden bei Menschen mit Depressionen, bipolarer Störung, Schizophrenie und Angstzuständen eine Verarmung an entzündungshemmenden, Butyrat-produzierenden Bakterien und im Gegensatz dazu eine Anreicherung entzündungsfördernder Bakterien. Die Arbeit veröffentlichten sie im September 2021 im Fachjournal „JAMA Psychiatry“. 

Vor kurzem publizierten Wissenschaftler zudem einen Fallbericht in „Frontiers of Psychiatry„Fecal Microbiota Transplantation (FMT) as an Adjunctive Therapy for Depression—Case Report“ , in dem zwei Menschen mit Depressionen von einer Stuhltransplantation profitierten.

Nun haben Wissenschaftler weiter Licht ins Mikrobiom-Dunkel gebracht und einen möglichen mikrobiellen Schuldigen bei Depressionen gefunden.

Welche Bakterien sind „gut“, welche „schlecht“? 

Anfang Februar 2022 veröffentlichten Wissenschaftler um Guillaume Méric ihre Arbeit in „Nature Genetics„Combined effects of host genetics and diet on human gut microbiota and incident disease in a single population cohort“ . Sie untersuchten die Auswirkungen von Genetik und Ernährung auf das Mikrobiom sowie die Häufigkeit von bestimmten Darmmikroben. Ziel war es, dadurch künftig Erkrankungen voraussagen zu können, die mit mikrobiellen Veränderungen des Darms verbunden sind. 

Als Basis nutzten die australischen Wissenschaftler Daten von 5.959 Teilnehmern (übereinstimmende menschliche Genotypen) der Finrisk-Studie, für die über 40 Jahre lang (beginnend 1972) im Fünfjahresrhythmus repräsentative Bevölkerungsstichproben erhoben wurden. Die von den australischen Wissenschaftlern berücksichtigten Daten umfassen 16 Jahre (2002 bis 2018).

Gut zu wissen: Was ist die Finrisk-Studie?

Bei der Finrisk-Studie handelt es sich um eine große finnische Bevölkerungsstudie, die Risikofaktoren für chronische (nicht übertragbare) Erkrankungen untersucht. 

Den Erkenntnissen der Wissenschaftler zufolge scheinen zwei Abschnitte des menschlichen Genoms das Vorhandensein unserer Mikroben im Darm stark zu beeinflussen – der eine Genabschnitt codiert für ein Enzym, das Milchzucker (Lactose) verdaut, der zweite Genabschnitt bestimmt die Blutgruppe.

Zu viel bei Magersucht – zu wenig bei MS?

Den Wissenschaftlern gelang es, mehrere Mikroben und ihre Anzahl beim Menschen in Verbindung mit zahlreichen Erkrankungen zu bringen. Sie warnen jedoch bei der Interpretation der Ergebnisse vor Kausalvorhersagen, da die Möglichkeit mehrerer nicht berücksichtigter Störfaktoren bestehe. Doch könnten die Erkenntnisse nützlich sein, um künftig Schwerpunkte in der Forschung zu setzen.

Sie führten die Analysen in zwei Richtungen durch: Einerseits schauten sie erst nach dem Mikrobiom der Teilnehmer und dann nach Erkrankungen, andererseits betrachteten sie Menschen mit bestimmten Erkrankungsrisiken und analysierten sodann deren Mikrobiom. 

Unter anderem fanden die Wissenschaftler heraus, dass eine erhöhte Menge der Bakteriengattung Faecalicoccus einen kausalen Effekt auf Anorexia nervosa (Magersucht) haben könnte. 

Auch scheint ein erhöhtes genetisches Risiko für Multiple Sklerose zu einer Verringerung von Lactobacillus B ruminis zu führen – was mit den Ergebnissen einer früheren Studie übereinstimmt, in der Lactobacillus sp. die MS-Symptomschwere im Tiermodell verringerte  „A novel probiotic mixture exerts a therapeutic effect on experimental autoimmune encephalomyelitis mediated by IL-10 producing regulatory T cells“ veröffentlicht 2010 in „PLOS ONE“

 
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Menschen mit schweren Depressionen haben mehr Morganella-Bakterien

Einen statistisch signifikanten (also nicht allein durch Zufall erklärbaren) Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Erkrankung machten die australischen Wissenschaftler allerdings nur in einem Fall aus: die Wirkung der Bakteriengattung Morganella auf schwere Depressionen (Major Depression). 

Bei 181 Studienteilnehmern, die eine Depression entwickelten, war – nach Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und BMI – Morganella sichtlich erhöht. „Insgesamt deutet diese vermutete Verbindung zwischen Morganella und schweren Depressionen darauf hin, dass weitere Anstrengungen unternommen werden sollten, um die mögliche Rolle dieses Bakteriums bei der Modulation der Darm-Hirn-Achse weiter zu erforschen“, schlussfolgerten die Wissenschaftler.

Ergebnisse begeistern Wissenschaftler

Begleitend zu der Studie erschien im Fachjournal „Science„Gut microbe linked to depression in large health study“  ein redaktioneller Beitrag. Hier kommen Wissenschaftler zu Wort, die sich an der Studie nicht beteiligt hatten. 

Jack Gilbert, ein Mikrobenökologe von der University of California in San Diego, spricht von „einem wirklich soliden Beweis dafür, dass dieser Zusammenhang von großer klinischer Bedeutung sein könnte“. Der gleichen Ansicht ist Jeroen Raes, ein Mikrobiologe an der KU Leuven (Belgien), den die hergestellte Verbindung zwischen „erhöhten Werten des Bakteriums und Patienten mit Depressionen“ begeistert.

Kann man Morganella bei Depressiven entfernen?

Doch welche Konsequenzen haben diese neuen Erkenntnisse nun? Gerard Clarke, Mikrobiom-Forscher am University College Cork, zufolge steckt das Forschungsfeld hierzu „noch in den Kinderschuhen“.

Es gebe viele Formen von Depressionen und viele Möglichkeiten, wie das Mikrobiom die Erkrankung beeinflussen könne. Der „heilige Gral“ sei es aber, eine fehlende Mikrobe zu finden, die als Ergänzung verabreicht werden könnte, sagt er.

Allerdings ist Morganella der Studie zufolge bei Depressiven erhöht – wie also „Morganella aus dem Darm entfernt werden könnte, um die Symptome zu lindern“ sei eine „etwas größere Herausforderung“, gibt der Wissenschaftler zu.

Frühere Studien fanden schon einen Zusammenhang zwischen Morganella und Depression

Die australischen Wissenschaftler sind nicht die ersten Forscher, die einen Zusammenhang zwischen Morganella und Depressionen herausfanden. 

Bereits 2008 gab es eine Arbeit dazu in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Neuroendocrinology Letters“. Damals ging es um Entzündungsfaktoren (LPS, Lipopolysaccharide) von bestimmten Bakterien – unter anderem Morganella –, die bei Menschen mit Depressionen erhöht waren„The gut-brain barrier in major depression: intestinal mucosal dysfunction with an increased translocation of LPS from gram negative enterobacteria (leaky gut) plays a role in the inflammatory pathophysiology of depression“ .