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Citraconsäure: Körpereigene Substanz als Arzneimittel

In Studien konnte eine antientzündliche Wirkung der körpereigenen Citraconsäure nachgewiesen werden. Nun soll die Substanz zum Arzneimittel weiterentwickelt werden. | Bild: PopsaArts / AdobeStock, DAZ / Montage: PTAheute

C5H6O4 – das ist die Summenformel der drei isomeren organischen Säuren Itaconsäure, Metaconsäure und Citraconsäure. Die Dicarbonsäuren entstehen unter anderem bei der Destillation von Citronensäure (C6H8O7), werden bereits alljährlich im Maßstab von mehreren Tausend Tonnen biotechnologisch produziert (Itaconsäure mit rund 80.000 Tonnen pro Jahr) und finden vielfältige Verwendung in den verschiedensten Industriezweigen – von der Lebensmittelherstellung über Pharmaindustrie bis zur Kunststoff- und Lederproduktion. 

Die drei kleinen organischen Säuren haben aber offensichtlich darüber hinaus auch Potenzial, in Zukunft als pharmazeutische Wirkstoffe zum Einsatz zu kommen.

Zur Erinnerung: Was sind Isomere?

Chemische Verbindungen mit der gleichen Summenformel (z. B. C5H6O4), aber unterschiedlicher chemischer Struktur werden Isomere genannt. Die Atome sind innerhalb der Isomer-Moleküle auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft, weshalb sich zum Teil unterschiedliche Eigenschaften (chemisch, physikalisch und biologisch) ergeben. /sn

Säuren in Lymphknoten und Milz entdeckt

Erst im Jahr 2021 fand eine Arbeitsgruppe von PD Dr. Frank Peßler am Institut für Experimentelle Infektionsforschung des Twincore-Zentrums in Hannover die drei Säuren in größerer Menge natürlich vorkommend in Organen des Immunsystems wie Lymphknoten und der Milz.

„Daraufhin haben wir diese Isomere weiter charakterisiert. Dabei waren die Ergebnisse mit Citraconsäure für die Entwicklung von Medikamenten am vielversprechendsten“, sagt Peßler. Bereits im Januar 2022 hatten die Forscher für Itaconsäure zeigen können, dass sie entzündungshemmende und antivirale Effekte hat. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachmagazin PLOS Pathogens.

Citraconsäure hemmt Virenvermehrung

Für Citraconsäure konnten sie nun zeigen, dass diese eine noch deutlich stärkere positive Wirkung auf das Immunsystem hat. Die Ergebnisse ihrer Arbeit veröffentlichten die Forscher jetzt im Fachmagazin Nature Metabolism.

„Wir haben entdeckt, dass Citraconsäure einen wichtigen Signalweg im Immunsystem aktiviert“, so Peßler. „Der sogenannte NRF2-Pathway steuert antioxidative und entzündungshemmende Prozesse, welche die Zellen vor schädlichen Einflüssen schützen können“, erklärt der Forscher. NRF2 steht dabei für „Nuclear factor erythroid 2-related factor 2“. Das Protein ist ein Transkriptionsfaktor, der insbesondere die Transkription für antioxidativ wirksame Proteine steuert.

Von besonderem Interesse für die Forscher war aber die Tatsache, dass Citraconsäure neben der antioxidativen Wirkung auch die Vermehrung von Viren hemmen kann und antiinflammatorisch wirkt. „Sie hemmt die Signalkaskaden der Typ-1-Interferone und reduziert dadurch proinflammatorische Zytokine und Chemokine“, erläutert Peßler. Gleichzeitig beobachteten die Forscher in menschlichen Zellkulturen, die sie mit Influenzaviren infizierten, dass Citraconsäure die Freisetzung der Viruspartikel aus den Zellen fast vollständig verhindert. 

Die Forscher hoffen daher, auf Basis von Citraconsäure Arzneimittel gegen schwere Virusinfektionen entwickeln zu können. Allerdings könne dies noch rund fünf bis zehn Jahre dauern. „Eher zehn“, sagt Peßler.

Auch als Krebsmedikament und Immunstimulanz?

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit sehen die Forscher unter Umständen auch als Krebsmedikament sowie als Anregungsmittel für das Immunsystem. Diese Wirkungen beruhen auf einer Wechselwirkung, die Citraconsäure direkt mit ihrem Isomer, der Itaconsäure und deren Synthesewegen hat.  

Citraconsäure hemmt das mitochondriale Enzym ACOD1 (Aconitat Decarboxylase 1), das in Immunzellen exprimiert wird. Dort vermittelt ACOD1 unter anderem die Synthese von Itaconsäure in entzündetem Gewebe. „Citraconsäure verhindert die Produktion von Itaconsäure, indem sie direkt an das aktive Zentrum des Enzyms bindet. Derartige Hemmstoffe waren bislang nicht bekannt“, sagt Dr. Fangfang Chen, Biotechnologin und Erstautorin der jetzt veröffentlichten Ergebnisse. „Zu viel Itaconsäure kann das Immunsystem schwächen. Die Gabe von Citraconsäure könnte daher zu einer Leistungssteigerung des Immunsystems führen. Dies könnte bei einer fortgeschrittenen Sepsis, also Blutvergiftung, helfen, oder bei Menschen, deren Immunsystem schlecht auf Impfungen anspricht“, erklärt sie.

Da Itaconsäure auch das Wachstum bestimmter Tumoren fördern könne, könnten ACOD1-Hemmstoffe auf der Basis von Citraconsäure eventuell eine neue Klasse von Krebsmedikamenten bilden, wie Peßler erklärt.

Patent angemeldet, Forschung geht weiter

In jedem Fall habe man für die medizinische Anwendung von Citraconsäure bereits ein Patent beantragt, auch wenn noch viel Arbeit auf dem Weg zur therapeutischen Anwendung anstehe. 

Nächste Forschungsschritte der Hannoveraner seien so etwa die Identifizierung und Validierung der pharmakologischen Zielstrukturen, der „drug targets“, sagt Peßler. „Danach möchten wir ,intelligent drug design‘ anwenden, um Analoge mit spezifischerer Wirkung und verbesserter Pharmakokinetik und -dynamik zu entwickeln“, sagt er. 

Auch die physiologische Funktion von Citraconsäure sei noch unklar: „Bislang wissen wir einfach viel zu wenig über die physiologische Bedeutung der Citraconsäure, insbesondere beim Menschen. Das Vorkommen in Lymphknoten und Milz basiert ja auf Messungen an Mausorganen“, sagt Peßler.

„Ein richtiger Hemmschuh ist auch die Tatsache, dass kaum bekannt ist, welche Zielstrukturen außer dem Enzym ACOD1 die Wirkung der Citraconsäure vermitteln“, sagt der Forscher. Ein Kandidat sei der NRF2-Signalweg – die Forscher vermuten etwa in ihrer Publikation, dass die antivirale Wirkung auf einer Hemmung eines Exportwegs aus dem Zellkern beruht. 

Bis zu entsprechenden Therapeutika wird dementsprechend noch viel Forschung notwendig sein und einige Zeit vergehen. Das Beispiel Citraconsäure zeigt allerdings, dass auch in schon lange bekannten Substanzen noch unbekanntes Potenzial für Arzneimittel steckt.