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Leseprobe 6/2020: KiSS-Syndrom – Modediagnose oder Störung?

Foto: Vincent Delegge – Unsplash.com

Der Begriff KiSS steht für eine Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung und wurde durch den Manualmediziner Heiner Biedermann Anfang der 90er-Jahre bekannt gemacht. Durch eine Fehlstellung der ersten beiden Halswirbel, die die Wirbelsäule mit dem Kopf verbinden, soll es zu einer Blockade der Kopfgelenke kommen. Daraus resultieren eine Verkrampfung und einseitige Verkürzung der umgebenden Muskulatur. Die betroffenen Kinder liegen mit gebogenem Rücken im Bett und können ihren Kopf meist nur zu einer Seite drehen. Aufgrund der Schmerzen, die durch die Wirbelverschiebung entstehen, nehmen die Kinder eine Schonhaltung ein. Glaubt man den Anhängern der KiSS-Theorie, hat diese Schiefhaltung fatale Folgen und ist unter anderem für spätere Entwicklungsstörungen verantwortlich. Schulmediziner sagen allerdings, dass verschobene Wirbel bei Babys nichts Ungewöhnliches seien. Am Ende der Schwangerschaft schauen viele Kinder aufgrund von Platzmangel immer zur selben Seite. Diese Haltung wird auch noch einige Zeit nach der Geburt beibehalten und verwächst sich dann meistens von alleine.

Wie zeigen sich KiSS-Symptome?

Das KiSS-Syndrom äußert sich laut Befürwortern bei Säuglingen auf unterschiedliche Weise. Die betroffenen Babys haben oft Probleme beim Stillen, das Trinken ist ihnen meist nur an einer Brustseite möglich. Sie spucken oft, haben sehr unruhige Schlafphasen und schreien viel, besonders im Autositz oder Kinderwagen. Ihr Kopf ist meist seitlich abgeflacht und sie weisen eine bevorzugte Blick- und Bewegungsrichtung auf. Anhänger der KiSS-Theorie machen das Syndrom auch für unklare Fieberschübe und Hyperaktivität verantwortlich. Auch würden die Kinder auffällige Verzögerungen in ihrer Entwicklung zeigen, diese führten dann zu weiteren Schwierigkeiten in späteren Entwicklungsphasen. Beispielsweise ist die Fortbewegung des Säuglings durch Robben oder Krabbeln von entscheidender Bedeutung für die Steuerung des Gleichgewichts und die Entwicklung der Augen-Hand-Koordination. Kinder, die diesen Entwicklungsschritt durch Rutschen auf dem Po oder verfrühtes Laufenlernen auslassen, würden in späteren Jahren unter motorischen und kognitiven Störungen leiden.

Das Wichtigste in Kürze

  • KiSS ist die Abkürzung für eine Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung und stellt eine Bewegungsstörung der oberen Halswirbelsäule dar.
  • Diese Fehlfunktion soll laut Befürwortern der KiSS-Theorie zu zahlreichen Beschwerden und Auffälligkeiten bei Säuglingen, und unbehandelt auch bei älteren Kindern, führen.
  • Probleme bei der Geburt können zu einer Belastung des Kopfgelenkes führen und dadurch eine Fehlstellung in diesem Bereich auslösen.
  • Viele Schulmediziner stehen der Existenz eines KiSS-Syndroms jedoch kritisch gegenüber. Wissenschaftliche Studien dazu und auch zum Erfolg einer Behandlung fehlen bislang.

Probleme während der Geburt

Verantwortlich für die Fehlstellung der Halswirbel seien meist bestimmte Schwierigkeiten bei der Geburt. Wenn das Köpfchen des Kindes unter hohem Druck durch den engen Geburtskanal gepresst werden muss, wird das Kopfgelenk stark belastet und eine KiSS-Symptomatik kann sich ausbilden. Weitere Risikofaktoren dafür wären eine Geburt mit Hilfe einer Saugglocke, ein Notfall-Kaiserschnitt, eine Zwillingsgeburt und ein Geburtsgewicht des Babys von mehr als 4.000 Gramm. Auch eine Beckenendlage am Ende der Schwangerschaft, bei der das Kind nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Beckenende voran im Mutterleib liegt, würde das KiSS-Syndrom begünstigen.

Behandlung

Ob man nun zu den Befürwortern oder Kritikern des KiSS-Syndroms gehört: Zeigt ein Baby entsprechende Symptome, sollten Eltern auf jeden Fall ihren Kinderarzt zu Rate ziehen. Dieser kann dann weitere Schritte veranlassen und gegebenenfalls eine Empfehlung für eine manuelle Therapie oder eine osteopathische Behandlung aussprechen.

Eine KiSS-Therapie zielt darauf ab, die Blockade der Kopfgelenke und der Halswirbelsäule sowie die daraus resultierenden Verspannungen wieder zu lösen. Meist in zwei bis vier Sitzungen werden bestimmte Druckpunkte an der Halswirbelsäule oder an anderen Bereichen der Wirbelsäule mit der Hand behandelt und so der verschobene Wirbel sanft in seine ursprüngliche Lage zurückgeschoben. Da es sich dabei nur um wenige Millimeter handelt, muss gerade bei kleinen Kindern äußerst vorsichtig gearbeitet werden.

Die meisten Schulmediziner lehnen Manipulationen im Bereich der Halswirbelsäule zur Behandlung eventuell vorliegender Störungen allerdings ab. Außerdem halten sie es für gefährlich, dass sich die Eltern häufig auf die Diagnose KiSS-Syndrom verlassen und daher keine weitere Abklärung der Beschwerden mehr erfolgt. So können ernsthafte Erkrankungen des Kindes übersehen werden.

Keine Kostenübernahme

Da das KiSS-Syndrom im Bereich der Schulmedizin umstritten ist und bisher keine ausreichenden Studienergebnisse zum Erfolg der Behandlung vorliegen, werden die Kosten für entsprechende Therapien von den gesetzlichen Krankenkassen normalerweise nicht bezahlt. Lediglich ein Teil der privaten Krankenversicherungen übernehmen die Kosten, ansonsten müssen die Eltern für entsprechende Behandlungen selbst aufkommen.

Probleme auch bei älteren Kindern 

Wird das KiSS-Syndrom im Säuglingsalter nicht behandelt, führt dies nach Meinung einiger Alternativmediziner bei älteren Kindern zu einem sogenannten KiDD-Syndrom. Dabei steht diese Abkürzung für Kopfgelenk-induzierte Dyspraxie und Dysgnosie, die Kinder würden unter einer Wahrnehmungsstörung und der Unfähigkeit, bereits erlernte Bewegungen zu reproduzieren, leiden. Kinder dieser Altersgruppe fielen dann durch Verhaltensauffälligkeiten in Kindergarten und Schule auf, sie hätten Schwierigkeiten, sich längere Zeit zu konzentrieren. Der Schiefstand des Kopfes aus dem Säuglingsalter bessert sich allerdings meist im Laufe des Wachstums, dafür treten gehäuft Fehlstellungen der Beine, begleitet von einer generellen Haltungsasymmetrie, auf.

Wie erkläre ich es meinem Kunden?

  • „Wenn Sie Zweifel an der Diagnose KiSS-Syndrom bei Ihrem Kind haben und es auch weiterhin viel schreit und unruhig schläft, wenden Sie sich unbedingt für eine Zweitmeinung an Ihren Kinderarzt.“
  • „Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen die Behandlung nicht, da bisher keine ausreichenden Studienergebnisse zum Erfolg der Behandlung vorliegen.“

Kritik an der Diagnose KiSS und KiDD

Ebenso wie das KiSS-Syndrom wird die KiDD-Problematik von vielen Experten nicht als Krankheitsbild anerkannt. Die Gesellschaft für Neuropädiatrie sieht den ganzen Themenkomplex der Kopfgelenk-induzierten Störungen als spekulativ und wissenschaftlich nicht haltbar an. Verhaltensauffälligkeiten bei jungen Säuglingen wie motorische Unruhe, Schlafstörungen und lange Schreiphasen sind nichts Ungewöhnliches. Die genauen Ursachen dafür sind bisher nicht bekannt, es handelt sich sicherlich um ein Zusammenspiel mehrerer organischer und psychischer Ursachen. Diese Einflüsse wirken häufig auch über die Säuglingszeit hinaus und es ist so nicht verwunderlich, dass bei verhaltensauffälligen Kindergarten- und Schulkindern auch Symptome auftreten, die mit einem KiSS-Syndrom in Verbindung gebracht werden können.

Die Gesellschaft für Neuropädiatrie weist auch darauf hin, dass es keine Beweise gibt, dass ein unbehandeltes KiSS-Syndrom die Lernfähigkeit und psychomotorische Entwicklung bis ins Schulalter beeinträchtigt. Solche Aussagen führten zu einer unnötigen Verunsicherung der Eltern und der Kinder selbst.

Positive Erfahrungsberichte

Zum Schluss bleibt noch die Frage zu klären, wie Kritiker sich die vielen positiven Erfahrungsberichte von betroffenen Eltern zur Therapie des KiSS-Syndroms erklären. Experten gehen hier häufig von einem psychologischen Effekt aus. Das anstrengende, unruhige Baby leidet an einer Störung, die sich gut behandeln lässt. Viele Eltern sind nach der Diagnose KiSS-Syndrom einfach nur erleichtert und beruhigt und daraufhin viel gelassener im Umgang mit ihrem Kind. Dies wirkt dann wiederum beruhigend auf das Baby und die ganze Familie ist viel entspannter.