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Multiple Sklerose und Keto-Ernährung: Profitieren MS-Patienten von einer ketogenen Diät?

Kann eine ketogene Ernährung bei Multipler Sklerose helfen? | Bild: Yulia Furman / AdobeStock

Multiple Sklerose (MS) wird von vielen Faktoren beeinflusst – sowohl genetischen wie auch Umweltfaktoren. Mit immunmodulierenden Arzneimitteln lässt sich die schubförmige MS heutzutage meist gut und deutlich besser behandeln als in früherer Zeit. 

Dennoch sind nach wie vor die Therapieoptionen für Menschen mit primär progredienter MS mit Ocrelizumab in Ocrevus® überschaubar. Und auch schubförmige MS-Formen können teilweise hochaktiv und aggressiv verlaufen.

US-Studie: Beeinflusst eine ketogene Ernährung die MS?

Doch was können Menschen mit MS ernährungstechnisch tun, um einen positiven Effekt auf die Krankheitsaktivität zu bewirken? Vorweg: Eine „MS-Diät“ gibt es nicht, auch wenn es zahlreiche Untersuchungen gibt und ebenso zahlreiche Vorschläge zu Ernährungsformen bei MS im Netz kursieren. Die wissenschaftliche Evidenz dahinter hat Professor Martin Smollich vom Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein 2020 in einem Podcast zusammengefasst.

Einen neuen Anlauf haben nun US-Wissenschaftler genommen: Sie untersuchten, wie sich eine ketogene Diät – viel Fett, wenig Kohlenhydrate, ausreichend Protein – klinisch auf Menschen mit schubförmiger MS auswirkt. 

In Mäusen mit MS (Mäuse, die an Autoimmun-Enzephalitis leiden – ein Modell, um die MS-Erkrankung nachzustellen) konnten neuroprotektive Effekte bereits 2012 gezeigt werden(„PLOS ONE“: „Inflammation-Mediated Memory Dysfunction and Effects of a Ketogenic Diet in a Murine Model of Multiple Sclerosis“) : Die ketogene Diät verbesserte die motorische Behinderung, machte Läsionen im Gehirn rückgängig und unterdrückte Entzündungsmediatoren und könnte somit eine schützende Wirkung entfalten, was die Wissenschaftler auf eine Abschwächung der Immunantwort zurückführten. Nun ist eine Maus kein Mensch. Die Ergebnisse können an Patienten folglich auch ganz anders aussehen. 

Strikte Ernährungsform bringt Risiken mit sich

Die US-Wissenschaftler hatten deswegen eine modifizierte Atkins-Diät bereits in einer Pilot-Studie(„Neurology Neuroimmonology & Neuroinflammation“: „Pilot study of a ketogenic diet in relapsing-remitting MS“)  mit 20 MS-Patienten untersucht. Es ging um die Sicherheit und Wirksamkeit dieser Ernährungsform, denn eine solche strikte Ernährung geht auch mit Risiken einher: metabolische Azidose (stoffwechselbedingte Übersäuerung des Blutes), Nephrolithiasis (Nierensteine), Hyperlipidämie und ein Defizit an bestimmten Nährstoffen. In der Machbarkeitsstudie verschlechterte sich die Erkrankung bei keinem Patienten. Verbesserungen ließen sich bei Depression, Müdigkeit, Leptinspiegel und BMI feststellen. Grund für die Wissenschaftler, die Studie mit mehr Menschen fortzuführen.

In der neu veröffentlichten Studie(„Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry“: „Phase II study of ketogenic diets in relapsing multiple sclerosis: safety, tolerability and potential clinical benefits“)  untersuchten die Wissenschaftler 65 Patienten (45 neue Patienten, 20 aus der Pilotstudie) mit schubförmiger MS (Alter zwischen 12 und 55 Jahre). Absichtlich schlossen sie auch zwei jüngere MS-Erkrankte ein, da 3 bis 5 Prozent der Patienten bei Diagnosestellung unter 18 Jahren sind (Häufigkeitsgipfel der schubförmigen MS ist im Alter von etwa 30 Jahren). Wichtig finden die Studienautoren den Einschluss jüngerer Teilnehmer vor allem auch deswegen, da Übergewicht in der Kindheit „stark“ mit einem Risiko für MS assoziiert ist(„Neurology“: „Interaction between adolescent obesity and HLA risk genes in the etiology of multiple sclerosis“) 

Die Teilnehmer mussten seit mindestens sechs Monaten stabil auf ihre Medikation eingestellt sein und hatten einen maximalen EDSS von 6. Nicht teilnehmen durften Menschen mit progredienten MS-Formen.

Zur Erinnerung: Was ist der EDSS?

Der EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet den Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit MS. Die Skala reicht von null bis zehn (in 0,5er-Schritten) und bewertet Störungen in unterschiedlichen Funktionellen Systemen (FS) des Körpers:

  • Pyramidenbahn, zum Beispiel Lähmungen
  • Kleinhirn, zum Beispiel Störungen des Bewegungsablaufs, Tremor
  • Hirnstamm, zum Beispiel Sprach- und/oder Schluckstörungen
  • Sensorium, zum Beispiel verminderter Berührungssinn
  • Blasen- und Mastdarmfunktion, zum Beispiel Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
  • Sehfunktion, zum Beispiel eingeschränktes Gesichtsfeld
  • Zerebrale Funktionen, zum Beispiel Wesensveränderung, Demenz

Je nach Anzahl der betroffenen Funktionsbereiche und dem Ausmaß der Einschränkung erfolgt die Abstufung von EDSS 0 (keine Symptome, kein Funktionsbereich betroffen) bis EDSS 10 (Tod durch MS).

Tägliche Dokumentation per Urinstreifen

Die Studienteilnehmer mussten während der Diät streng auf Kohlenhydrate achten (< 20 g/Tag) und sollten die Zufuhr gesunder Fette erhöhen. Ob sie die ketogene Diät strikt einhielten, überprüften die MS-Patienten über sechs Monate selbst anhand von Urinteststreifen (Ketostix), deren Foto sie tagesaktuell (mit Datum) an das Studienzentrum schicken mussten. War der Test positiv, galt der Tag als therapietreuer Tag – insgesamt mussten 85 Prozent der Teststreifen positiv sein, um in der Studie als adhärent zu gelten. 

Die MS-Patienten erhielten die Anweisung, täglich Vitamine und Mineralstoffe zu sich zu nehmen. Bei geringer Calciumzufuhr erhielten sie zusätzlich 500 bis 600 mg Calcium täglich. Die meisten (91 Prozent) substituierten bereits Vitamin D – die Dosis sollten sie wie vom Neurologen verordnet weiterführen.

Gut zu wissen: durchschnittlicher EDSS der Teilnehmer bei 2,3

Die meisten Studienteilnehmer waren weiblich (86 Prozent), nur 6 Prozent hatten einen normalen BMI, während 3 Prozent übergewichtig waren und mit 63 Prozent über die Hälfte adipös. 

Im Mittel litten die Patienten seit 8,4 Jahren an MS, der EDSS lag durchschnittlich bei 2,3. Bis auf einen Patienten erhielten alle MS-Arzneimittel, am häufigsten Natalizumab (Tysabri®), Fingolimod (Gilenya®), Dimethylfumarat (Tecfidera®), Interferon (Avonex), Glatirameracetat (Copaxone®) und Ocrelizumab (Ocrevus®).

Körpervermessung, Mobilität, Müdigkeit und Co.

Die MS-Patienten wurden zu Beginn der Studie und nochmal nach einem, drei und sechs Monaten vermessen (Gewicht, Hüft- und Taillenumfang). Zu diesen Terminen überprüften die Ärzte zudem den EDSS. 

Zu Studienbeginn und am Ende nach sechs Monaten unterzogen sich die Patienten zusätzlich dem sogenannten Multiple Sclerosis Functional Composite-Index (SCFC), anhand dessen sich die „Funktionalität“ des Patienten bestimmen lässt (7,6-m-Gehstrecke, 9-Loch-Steckbrett-Test, neurokognitiver PASAT3-Test). 

Um auch Einblicke in die tägliche Mobilität der Patienten zu gewinnen, trugen die Studienteilnehmer einen Accelerometer um die Taille, der permanent die körperliche Aktivität misst. Nur zum Schwimmen oder Duschen wurde er abgenommen. 

Mittels Fragebogen erfassten die Studienautoren zudem zu Studienanfang, nach drei und sechs Monaten Müdigkeit und Stimmung (Depression) der MS-Patienten.

Nach 6 Monaten Keto-Diät verbesserter EDSS

Wie die Studienautoren berichten, hielten 83 Prozent der Teilnehmer die Studie durch. Bei allen blieb die Krankheitsaktivität stabil. Nach sechs Monaten ketogener Diät hatte sich der EDSS sogar um 0,5 Punkte verbessert. 

Fortschritte ließen sich auch beim 9-Loch-Steckbrett-Test feststellen, während sich bei der 7,6- m-Gehstrecke und dem gesamten MSFC-Test keine besseren Ergebnisse zeigten. Beim 6-Minuten-Gehtest schafften die Patienten am Ende der Diät etwa 24 m mehr. Diese erhöhte Gehgeschwindigkeit hatte jedoch nicht die körperliche Aktivität der Patienten im täglichen Leben verändert (gemessen anhand des Accelerometers, dessen Aktivitätsdaten sich nicht signifikant änderten).

Veränderungen ließen sich auch beim Gewicht beobachten: BMI (-3,4 kg/m2) und Fettmasse nahmen ab (von 44 auf 40 Prozent), die fettfreie Masse nahm zu (von 56 auf 60 Prozent). Die Patienten verbesserten zudem Depression und Müdigkeit und die gesamte Lebensqualität. Die verringerte Müdigkeit sei vergleichbar mit Effekten, wie sie auch Modafinil und Methylphenidat in Studien gezeigt hätten, ordnen die Wissenschaftler ein.

Nebenwirkungen der ketogenen Diät

Zu den am häufigsten berichteten Nebenwirkungen der Diät zählen Verstopfung (43 Prozent), Durchfall (18 Prozent), Übelkeit (9 Prozent) und Gewichtszunahme (9 Prozent) sowie Müdigkeit, Akne und Depression (je 5 Prozent). Zwei Teilnehmer brachen die Studie aufgrund von gastrointestinalen Begleiterscheinungen ab. 

Nach Keto-Diät: Leptinspiegel sinkt, Cholesterin erhöht

Bei den Blutwerten konnten die Wissenschaftler zudem feststellen, dass sich die Leptinspiegel – ein entzündungsförderndes Adipokin – signifikant verringerten, vor allem in den ersten drei Monaten der Ernährungsveränderung. Hingegen erhöhten sich die Spiegel eines entzündungshemmenden Adipokins – Adiponektin – gegen Ende der Diät.

Cholesterin und LDL erhöhten sich unter der ketogenen Diät innerhalb von sechs Monaten, allerdings war das LDL/HDL-Verhältnis – ein Risikomarker für kardiovaskuläre Erkrankungen – nicht signifikant erhöht. 

Verbessert hatten sich auch die Vitamin-D-Spiegel, was die Wissenschaftler auf eine sorgfältigere Einnahme unter Studienüberwachung und eine bessere Verfügbarkeit von Vitamin D aufgrund der Gewichtsabnahme zurückführten. Zudem könnten die in den täglich einzunehmenden Vitaminen der Probanden enthaltenen 400 bis 600 Einheiten ihren Teil zu einer besseren Vitamin-D-Versorgung beigetragen haben.

Ketogene Diät scheint sicher für MS-Patienten

Die Wissenschaftler betonen, dass die Phase-2-Studie vornehmlich dazu diente, die Sicherheit und weniger die Effektivität einer ketogenen Diät bei MS zu bewerten. Um Aussagekraft für die Wirksamkeit zu erlangen, müssten deutlich mehr Patienten eingeschlossen werden. Zudem wäre optimal, wenn die Studie verblindet laufen könnte – was bei Ernährungsinterventionen jedoch nahezu unmöglich ist.  

Doch habe die Studie gezeigt, dass eine ketogene Ernährung eine sichere und gut verträgliche Diät für Menschen mit schubförmiger MS sei, die Gewicht reduziere, Depression und Müdigkeit verringere und die Lebensqualität der Patienten erhöhe. Zudem wirkte sich die Ernährungsintervention positiv auf Fett-assoziierte Entzündungen aus. Jedoch unterstützen die Studienautoren nicht, dass die Diät – ohne sichere Studienumgebung – nun breit angewendet wird.

Ernährung, Darmmikrobiom und MS – viele Daten, wenig Evidenz

Dass es unserem Immunsystem nicht völlig gleichgültig ist, was wir essen und wie unser Mikrobiom sich zusammensetzt, konnten Wissenschaftler bereits in verschiedenen Studien zeigen(„Current Treatment Options in Neuology“: „The gut microbiome in multiple sclerosis“) . 2015 veröffentlichten Wissenschaftler eine Arbeit, in der sie durch Vitamin-D-Supplementierung das Mikrobiom von MS-Patienten verändern konnten(„Journal of investigative Medicine“: „Gut microbiota in multiple sclerosis: possible influence of immunomodulators“) 

2020 konnte das Team um Professor Aiden Haghikia zeigen, dass kurzkettige Fettsäuren, wie Propionsäure, sich positiv auf die Schubrate bei Menschen mit schubförmiger MS auswirken. Der Chefneurologe der Magdeburger Uniklinik rät mittlerweile Menschen mit MS zur Substitution von 1.000 mg Propionsäure täglich (Einmaldosis oder zweimal pro Tag 500 mg). Das machte er beim wissenschaftlichen Kongress der Interpharm 2021 deutlich.

Zu vielen anderen Ernährungsideen und -supplementen, wie Antioxidantien, Fettsäuren und Diätformen, reichen derzeitige Belege zur Wirksamkeit nicht so weit, als dass man sie MS-Patienten aus wissenschaftlicher Sicht uneingeschränkt empfehlen könnte. 

„Eine sehr fettarme, pflanzliche Ernährung wurde zwar gut eingehalten und vertragen, führte aber bei Probanden mit RRMS (remittierend schubförmiger MS) über ein Jahr hinweg zu keiner signifikanten Verbesserung der MRT des Gehirns, der Schubrate oder der Behinderung, die anhand der EDSS-Scores bewertet wurde“, lautete das Fazit der Wissenschaftler einer Studie aus dem Jahr 2016, die eine pflanzenbasierte Diät mit wenig Fett bei MS-Patienten untersucht hatte(„Multiple Sclerosis and related Disorders“: „Low-fat, plant-based diet in multiple sclerosis: A randomized controlled trial“) .  

In einem „Cochrane-Review“(„Dietary interventions for multiple sclerosis‐related outcomes“)  aus dem Jahr 2020 mussten die Autoren den Schluss ziehen, dass es keine ausreichenden Beweise gibt, die eine Supplementierung mit PUFA (mehrfach ungesättigte Fettsäuren) oder Antioxidantien bei MS befürworten. „Es könnte wenig bis keine Unterschiede hinsichtlich der Schubrate geben“, äußern sich die Cochrane-Autoren vorsichtig zu ihren Ergebnissen.