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Das mögliche Gift im Falle Nawalny: Wie wirken Cholinesterasehemmer?

Bei einer Vergiftung durch Cholinesterasehemmer, wie im Fall Nawalny, zeigen die Opfer Symptome wie erhöhten Speichelfluss, verengte Pupillen und einen sinkenden Blutdruck. | Bild: Björn Wylezich / Adobe Stock

Jeder Mensch hat eine Cholinesterase: Das Enzym ist dafür zuständig, dass der Botenstoff (Neurotransmitter) Acetylcholin (ACh) abgebaut, somit inaktiviert wird. Acetylcholin ist der wichtigste Neurotransmitter im vegetativen (autonomen) Nervensystem, bestehend aus Sympathikus und Parasympathikus (und dem Enterischen Nervensystem). Seine Aufgabe ist die Signalübertragung zwischen einzelnen Nervenzellen und zwischen Nerven- und Muskelzellen (motorische Endplatte).

Acetylcholin: Neurotransmitter des Parasympathikus und Sympathikus

ACh fungiert als Botenstoff aller präganglionären (Nervenfasern, die vom ZNS zum Ganglion ziehen) parasympathischen und sympathischen Neurone. Beim Parasympathikus vermittelt ACh zusätzlich auch die postganglionäre (Nervenfasern, die vom Ganglion zum Zielorgan ziehen) Signalübertragung, während beim Sympathikus der wichtigste postganglionäre Neurotransmitter Noradrenalin ist. Einzige Ausnahme bilden die Schweißdrüsen, die ebenfalls ACh nutzen, obwohl sie sympathisch innerviert sind. Wichtig ist Acetylcholin auch bei der Signalübertragung von Nerven auf die Muskeln, was an der motorischen Endplatte erfolgt. Acetylcholin bindet an Nicotin- oder Muscarinrezeptoren. Nicotinrezeptoren sind ligandengesteuerte Ionenkanäle, an welchen auch Nicotin verstärkend wirkt. Muscarinrezeptoren (M1 bis M5) sind G-Protein-gekoppelt, hier wirkt Muscarin, das Pilzgift im Fliegenpilz (Amanita muscaria), agonistisch.

Cholinesterasehemmer werden auch als indirekte Parasympathomimetika bezeichnet: Sie erhöhen die Konzentration von Acetylcholin im synaptischen Spalt, indem sie dessen Abbau dort blockieren. Es steht folglich mehr Botenstoff für die Signalübertragung zur Verfügung, es kommt zu einer Verstärkung der acetylcholinergen Wirkungen:

  • die Herzfrequenz sinkt,
  • der Blutdruck sinkt,
  • die Speichel-, Magensaft-, Bronchial- und Schweißsekretion steigt,
  • der Tonus (Spannungszustand) der glatten Muskulatur des Magen-Darm-Trakts, der ableitenden Harnwege und der Bronchien steigt,
  • die Pupille verengt sich (Miosis) und akkomodiert auf den Nahpunkt.

Eingesetzt werden Cholinesterasehemmer als Arzneimittel und auch als Kampf- und Nervengase. Der wichtigste Unterschied hierbei: Cholinesterasehemmer, die therapeutisch als Arzneimittel genutzt werden, blockieren die Cholinesterase reversibel, das heißt: Die Arzneistoffe lassen das Enzym nach einer gewissen Zeit wieder „frei“ und diffundieren von diesem weg. Neben reversiblen AChE-Hemmstoffen gibt es jedoch auch Substanzen, die das Enzym irreversibel blockieren, sodass die Cholinesterase nutzlos wird und erst vom Körper neu gebildet werden muss – so bei Organophosphaten. Sie sind toxikologisch relevant – als Kampfgase wie Sarin oder die Nervengifte der Nowitschok-Gruppe, die unter anderem beim Anschlag auf Skripal und dessen Tochter 2018 in Salisbury gefunden wurden –, und Organophosphate werden auch als Insektizide (Parathion = E605) eingesetzt. Doch wie wirken Organophosphate auf den Menschen?

Tod durch Atemstillstand und Herzversagen

Kommt es zu einer Vergiftung durch Organophosphate, wie Nowitschok, lassen sich Symptome und Wirkungen der Substanzen, bedingt durch deren Cholinesterasehemmung, ebenfalls  auf eine Anreicherung von ACh im zentralen und peripheren Nervensystem zurückführen: An muscarinergen Rezeptoren verstärkt Acetylcholin die muscarinergen Wirkungen – die Vergifteten zeigen einen vermehrten Tränen- und Speichelfluss, eine erhöhte Bronchial- und Magen-Darm-Sekretion, eine verstärkte Peristaltik mit Spasmen. Die Pupille verengt sich stark (Miosis), es kommt zu Sehstörungen, einem Absinken von Herzfrequenz und Blutdruck, Bradykardie, und die Schweißsekretion ist erhöht. Reichert sich ACh an nicotinischen Rezeptoren der parasympathischen und sympathischen Ganglien und der motorischen Endplatte an, kommt es zu Muskelsteife, Zittern, Muskelzuckungen, tonisch-klonischen Krämpfen, Sprachstörungen und Lähmungen, Bewusstseinsstörungen bis hin zur Atemlähmung. Es kommt zunächst durch die Acetylcholin-Flutung zu einer Dauererregung mit Kontraktion der Muskulatur, dieser schließt sich eine Lähmung an. Letztlich sterben die Opfer durch die Blockade der Atmung und des Herzmuskels.

Die Antidote Obidoxim und Atropin

Allerdings ist die Bindung von Organophosphaten an die Cholinesterase nicht sofort irreversibel, das bedeutet: Innerhalb eines gewissen Zeitfensters können die Substanzen noch vom Enzym verdrängt werden, beispielsweise durch Obidoxim. Dieser sogenannte Alterungsprozess – bis das Organophosphat tatsächlich die Cholinesterase irreversibel zerstört hat – dauert Toxikologen zufolge in Abhängigkeit vom Wirkstoff mehrere Stunden bis Tage. Besonders schnell verläuft die Enzymhemmung bei Soman, neben Sarin und Tabun der dritte in Deutschland entwickelte chemische Kampfstoff. Deswegen sollte Obidoxim möglichst rasch nach Vergiftung verabreicht werden. Ist der Alterungsprozess abgeschlossen, hilft Obidoxim nicht mehr.

Die Charité berichtete, dass Nawalny Atropin erhält – Atropin blockiert Acetylcholin-Rezeptoren des parasympathischen Systems (Parasympatholytikum), hebt die Wirkung von Acetylcholin auf und steuert so der Acetylcholin-Anflutung entgegen. Atropin kann auch gegeben werden, wenn der Alterungsprozess der Cholinesterase bereits abgeschlossen ist.

Cholinesterasehemmer in der Pharmazie

Cholinesterasehemmer werden auch therapeutisch genutzt: Donepezil wird bei Alzheimer-Demenz eingesetzt. Daneben gibt es Distigminbromid, das u. a. bei neurologisch bedingten Blasenentleerungsstörungen Einsatz findet, und Neostigmin und Pyridostigminbromid bei Myasthenia gravis. Myasthenia gravis ist eine neurologische Autoimmunerkrankung, bei der die Signalübertragung vom Nerv auf den Muskel an der motorischen Endplatte gestört ist, symptomatisch ist eine ausgeprägte Muskelschwäche. Physostigmin ist ZNS-gängig und wird bei zahlreichen Vergiftungen als Antidot eingesetzt, beispielsweise durch Alkohol, Engelstrompete, Stechapfel, Tollkirsche (Hyoscyamin, Scopolamin, Atropin) oder  Fliegenpilz.