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Ist Risdiplam bei Spinaler Muskelatrophie über­flüssig?

Bild: Maria Sbytova / AdobeStock

Jüngst empfahl die EMA beziehungsweise der dortige Humanarzneimittelausschuss CHMP die Zulassung eines weiteren Arzneimittels zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie (SMA): Risdiplam in Evrysdi® von Roche könnte bald in der EU die SMA-Therapie erweitern und den Vorteil einer ersten oralen SMA-Therapie mit sich bringen. Das Ziel von Risdiplam ist – wie bei Nusinersen (Spinraza®) – das SMN2-Gen (SMN=Survival Motoneuron): Risdiplam versetzt das SMN2-Gen in die Lage, ein Survival-Motoneuron-Protein in voller Länge zu produzieren, das normal arbeiten kann und so das Fortschreiten der Erkrankung verzögert.

Zur Erinnerung:Was ist SMA?

SMA ist eine neuromuskuläre Erkrankung, bei der aufgrund eines Gendefekts ein bestimmtes Protein, Survival Motoneuron (SMN), fehlt oder zu wenig vorhanden ist. Die Folge: Die Motoneurone degenerieren zunehmend und führen zur Muskelschwäche bei den Erkrankten. Bei der schwersten Form der SMA, der akut infantilen SMA beziehungswiese SMA Typ 1, sterben die Säuglinge und Kleinkinder in den ersten beiden Jahren nach Geburt.

Im letzten Jahr erhielt erstmals eine Gentherapie – Zolgensma® (Onasemnogen-Abeparvovec) – die EU-Zulassung und damit Eingang in die Behandlung der Spinalen Muskelatrophie. Anders als das erste zugelassene Arzneimittel bei SMA, Spinraza®, adressiert Zolgensma® die Ursache der SMA, das defekte SMN1-Gen.

Doch: Wenn es mit Zolgensma® bereits eine Gentherapie gibt, die die Ursache – den Gendefekt bei SMN1 – angeht, sind denn dann weitere Therapien, wie in Bälde mit Risdiplam erwartet, überhaupt erforderlich? PTAheute hat mit Roche gesprochen.

Spinale Muskelatrophie: Was läuft falsch?

Bei Spinaler Muskelatrophie (SMA) herrscht ein Mangel an Survival Motoneuron (SMN). Dieser bewirkt, dass Motoneurone zunehmend zugrunde gehen und die Muskulatur der Erkrankten verkümmert. Der SMN-Mangel kommt zustande, weil Patienten mit Spinaler Muskelatrophie ein funktionierendes SMN1-Gen fehlt, sie haben aber mindestens eine Kopie des SMN2-Gens, das meist ein kurzes SMN-Protein produziert, das funktioniert allerdings nicht so gut wie ein Protein in voller Länge. Alle bisherigen Ansätze zur Behandlung von Spinaler Muskelatrophie zielen darauf ab, die Menge an SMN zu erhöhen und so die Erkrankung zu bremsen beziehungsweise zu heilen. Während Nusinersen (Spinraza®) – das erste zugelassene SMA-Therapeutikum – und das in Bälde erwartete Risdiplam (Evrysdi®) den zweiten Genort SMN2 in den Fokus nehmen und dafür sorgen, dass dort mehr funktionsfähiges Survival Motoneuron (SMN) entsteht, ersetzt die Gentherapie Zolgensma® (Onasemnogen-Abeparvovec) das defekte SMN-Gen am ersten Genort SMN1. Zolgensma® ist mit Arzneimittelkosten von etwa zwei Millionen Euro die derzeit teuerste Einmal-Arzneimitteltherapie, sie erhielt 2020 die Zulassung in der EU und adressiert derzeit als einzige Behandlung direkt den der SMA zugrundeliegenden Gendefekt.

So decken sich die zugelassenen Indikationen von Risdiplam und Zolgensma® teilweise: Beide dürfen bei Spinaler Muskelatrophie Typ 1 angewendet werden, Risdiplam zusätzlich bei den etwas weniger schweren Formen SMA Typ 2 und 3. Somit scheiden SMA-Patienten mit Typ 2 und 3 für Zolgensma® derzeit aus. Doch Säuglinge und Kleinkinder ab zwei Monaten mit der klinischen Diagnose Spinale Muskelatrophie Typ 1 dürfen nach Zulassung von Risdiplam theoretisch entweder Risdiplam oder die Gentherapie erhalten. Welche Faktoren entscheiden nun, welches Arzneimittel gegeben werden soll? Roche erklärt: „Grundsätzlich besteht für Ärzte in Deutschland Therapiefreiheit. Es ist eine individuelle Entscheidung der behandelnden Ärzte, sich unter Abwägung aller verfügbaren Informationen für eine passende SMA-Therapie zu entscheiden.“

Warum ist Risdiplam nicht überflüssig?

Auch ist Roches Ansicht nach selbst bei SMA-Typ-1-Patienten Risdiplam trotz Zolgensma® nicht überflüssig. Warum? Roche erklärt, dass trotz Zolgensma® der Bedarf einer „unkomplizierten, sicheren und effektiven SMA-Therapie“ weiterhin vorhanden sei. Studien zur oralen SMA-Therapie mit Risdiplam (FIREFISH-Studie an Säuglingen mit SMA Typ 1) hätten eine „eindeutige Verbesserung der motorischen Entwicklung sowie der bulbären und respiratorischen Funktionen“ gezeigt: 93 Prozent der Säuglinge waren nach zwölf Monaten Risdiplam noch am Leben und  92 Prozent der überlebenden Säuglinge benötigten keine dauerhafte Beatmung. Zum Vergleich: Im natürlichen Verlauf der im Säuglingsalter beginnenden SMA versterben 50 Prozent der Säuglinge innerhalb von 10,5 Monaten oder müssen dauerhaft beatmet werden. Roche sieht daneben den Nutzen seines SMA-Arzneimittels darin bestätigt, dass etwa zwei von fünf behandelten Babys und Kleinkinder nach einem Jahr Risdiplam für fünf Sekunden alleine sitzen konnten – auch das ein „Meilenstein“, den unbehandelte Patienten in der Regel niemals erreichten.

Zolgensma® kein kurativer Ansatz?

Die Erwartungen an die im letzten Jahr zugelassene Gentherapie Zolgensma® waren enorm – so hoffte man, dass durch Onasemnogen-Abeparvovec Spinale Muskelatrophie heilbar würde. Doch ganz so einfach ist es nicht: Auch Roche betont: „Die Gentherapie mit Zolgensma® (Onasemnogen-Abeparvovec) ist keine kurative Therapie.“ Novartis selbst spreche in Bezug auf Zolgensma® nicht mehr von einer kurativen Therapie. So entwickelten auch mit Zolgensma® behandelte Kinder sich durchaus individuell unterschiedlich und seien auch nach der Einmalbehandlung nicht symptomfrei. Bestätigt sieht Roche dies mitunter dadurch, dass sich aktuell 14 mit Zolgensma® vorbehandelte SMA-Typ-1-Kinder in der JEWELFISH-Studie mit Risdiplam befänden. Eine Auswertung dieser Daten erwartet Roche auf dem Cure-Sma-Kongress (7. bis 11. Juni) dieses Jahres. Und in der Tat: Wäre SMA durch Zolgensma® geheilt, wäre eine weitere Therapie mit Risdiplam wahrscheinlich nicht vonnöten.

Die JEWELFISH-Studie

JEWELFISH ist eine offene explorative Studie mit Patienten im Alter von sechs Monaten bis 60 Jahren mit SMA Typ 2 oder 3, die zuvor im Rahmen einer klinischen Studie mit einer SMN-Targeting-Therapie oder Olesoxime behandelt wurden. Olesoxime war ein vielversprechender Kandidat zur Behandlung von SMA, allerdings bestätigte die OLEOS-Studie (Start 2016) die Erwartungen nicht, nach 18 Monaten Olesoxime verloren die Patienten Teile ihrer motorischen Fähigkeiten, sodass Roche 2018 entschied, Olesoxime nicht weiterzuentwickeln.

Roche argumentiert zudem, dass für die Wirksamkeit der Gentherapie mit Zolgensma® bisher auch nur Ergebnisse für die Anwendung bei Kindern mit maximal 8,5 kg Körpergewicht vorlägen, sodass die Datenlage keinen direkten Vergleich der Wirksamkeit von Risdiplam und Onasemnogen-Abeparvovec ermögliche. Risdiplam darf ab zwei Monaten eingesetzt werden, in der Regel wiegen Säuglinge dann zwischen fünf und sechs Kilogramm. Bei 8,5 Kilogramm sind die Babys bereits sieben bis acht Monate alt (je nach Geschlecht und Konstitution).

Wie werden die drei Therapiemöglichkeiten eingesetzt?

Nusinersen in Spinraza® wird laut Fachinformation zur Behandlung der 5q-assoziierten Spinalen Muskelatrophie angewendet. Die Zulassung schränkt Spinraza® folglich nicht auf bestimmte SMA-Typen ein, allerdings erstattet die GKV Spinraza® nicht für jeden Patienten mit SMA. Anders Onasemnogen-Abeparvovec: Zolgensma® ist in der EU zugelassen zur Behandlung von Patienten mit 5q-Spinaler Muskelatrophie mit einer biallelischen (beide Allele betreffenden) Mutation im SMN1-Gen und einer klinischen Diagnose von SMA Typ 1 oder Patienten mit 5q-SMA mit einer biallelischen Mutation im SMN1-Gen und bis zu drei Kopien des SMN2-Gens. Risdiplam ist angezeigt bei Patienten ab einem Alter von zwei Monaten mit 5q-assoziierter SMA und der klinischen Diagnose einer SMA vom Typ 1, Typ 2 oder Typ 3 oder mit einer bis vier SMN2-Kopien.

Nun wartet Roche auf die Zulassung von Risdiplam, man rechne „jeden Tag damit“. Die Markteinführung soll sodann prompt starten.