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Migräneprophylaxe bei Kindern nicht mit Amitriptylin oder Topiramat

Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft warnt vor einer mangelhaften Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen. | Bild: Tom Wang / AdobeStock

Schon bei Erwachsenen ist das Vorbeugen von Migräneattacken ein schweres Unterfangen, schlechter noch sehen die medikamentösen Möglichkeiten bei Kindern und Jugendlichen aus. So sind beispielsweise die relativ neuen Migräne-Antikörper, die das CGRP-System adressieren – Erenumab, Fremanezumab, Galcanezumab –, allesamt ausschließlich ab 18 Jahren zugelassen. Und im Gegensatz zur Migräneprophylaxe bei Erwachsenen fehlen bei Kindern auch Zulassungen für den Betablocker Metoprolol, den Calciumkanalantagonisten Flunarizin, das Antiepileptikum Topiramat, das Antidepressivum Amitriptylin sowie für Clostridium botulinum Toxin Typ A (zugelassen nur bei chronischer Migräne, sprich bei Kopfschmerz, der über mehr als drei Monate an 15 oder mehr Tagen pro Monat auftritt und der an mindestens acht Tagen pro Monat die Merkmale eines Migränekopfschmerzes aufweist). Diese relativ schlechten medikamentösen Möglichkeiten zur Vorbeugung von Migräneattacken bei Kindern und Jugendlichen sollten sich ändern.

Migräneprophylaxe bei Erwachsenen

Um Migräneattacken vorzubeugen, sind für Erwachsene unterschiedliche Wirkstoffe zugelassen: 

  • die Betablocker Metoprololtartrat (z. B. Metoprolol AbZ 50 mg oder 100 mg) und Propranololhydrochlorid (z. B. Dociton®),
  • der Calciumkanalantagonist Flunarizin (z. B. Flunarizin Acis®, Flunarizin-Ct 5 mg),
  • das Antiepileptikum Topiramat (z. B. Topiramat Neuraxpharm®),
  • das Antidepressivum Amitriptylin (z. B. Saroten® Tabs 50 mg),
  • Clostridium botulinum Toxin Typ A (ausschließlich für chronische Migräne)
  • und die Migräne-Antikörper Erenumab (Aimovig®), Fremanezumab (Ajovy®) sowie Galcanezumab (Emgality®).

Waren Behandlungen mit allen dafür zugelassenen Arzneimitteln nicht erfolgreich oder kontraindiziert, erlaubt die Arzneimittel-Richtlinie im Rahmen eines Off-Label-Uses auch Valproinsäure, sodass das Antiepileptikum trotz fehlender Zulassung verordnungsfähig ist.

Migräneprophylaxe bei Kindern – was sagt die Leitlinie?

Die aktuelle S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ geht auch auf Kinder ein. Die Autoren raten bei Kindern vorwiegend zu nicht medikamentösen Maßnahmen, um Migräneattacken vorzubeugen, da „die Wirksamkeit einer medikamentösen Migräneprophylaxe nicht zweifelsfrei belegt“ sei. Für Kinder ist laut den Wissenschaftlern die Wirkung von Flunarizin gesichert, der Calciumkanalblocker sei ausreichend untersucht und werde mit 5 mg täglich oder jeden zweiten Tag dosiert. 
Zugelassen ist Flunarizin bei Kindern zur Migräneprophylaxe nicht, die Fachinformationen der auf dem Markt befindlichen Flunarizin-Präparate von Acis und Ct informieren: „Wegen unzureichender Erfahrung ist die Anwendung von Flunarizin bei Kindern auszuschließen.“ 

Auch für Propranolol gebe es „gewisse Hinweise auf eine Wirksamkeit“, liest man in der Migräne-Leitlinie. Und: Die Fachinformation von Dociton® (Propranolol) schließt Kinder in der Indikation auch nicht aus, der Betablocker ist zugelassen. 

Welche Daten gibt es zu Topiramat? 

Zwei Studien, veröffentlicht 2005 und 2006 im Fachjournal „Headache: The Journal of Head and Face Pain“, deuten darauf hin, dass „Topiramat eine wirksame Therapie zur Vorbeugung von Migräne bei Kindern sein könnte“ und „gut vertragen“ werde. In den Vereinigten Staaten ist Topiramat für Jugendliche von der FDA sogar zugelassen. Allerdings gibt es auch andere Daten. So waren in einer großen randomisierten Studie an Kindern Topiramat und Amitriptylin nicht wirksamer als Placebo – allerdings, so räumen die Leitlinienautoren an dieser Stelle ein, sei in der Studie der Placeboeffekt extrem hoch gewesen, sodass die Wirksamkeit von Topiramat und Amitriptylin nicht abschließend bewertet werden könne. 

Eine klare Meinung haben sie zu Valproinsäure: „Valproinsäure ist bei Kindern und Jugendlichen nicht wirksam.“ Sie fassen zusammen: „Valproinsäure, Topiramat und Amitriptylin wurden in der Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen untersucht. Angesichts einer sehr hohen Placeborate konnte keine therapeutische Überlegenheit zu Placebo gezeigt werden.“ Bei chronischer Migräne ließen Fallserien eine gewisse Wirksamkeit von Botulinumtoxin A vermuten, Biofeedback sei wirksam gewesen.

Erstattungsfähigkeit von Off-Label-Use von Expertengruppe abhängig

Bereits am 10. Dezember 2019 beschloss der Unterausschuss Arzneimittel des G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) ein Stellungnahmeverfahren zur Migräneprophylaxe bei Kindern einzuleiten. Es ging um die Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) Anlage VI. Diese regelt den Off-Label-Use von Arzneimitteln, also die Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in einem nicht zugelassenen Anwendungsgebiet. Hier sollten „Amitriptylin und Topiramat zur Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen“ aufgenommen werden. Diese könnten dann für Kinder und Jugendliche zur Vorbeugung von Migräneattacken zulasten der GKV (Gesetzliche Krankenversicherung) verordnet werden, obwohl eben keine Zulassung in dieser Indikation vorliegt. 

Damit dies jedoch möglich wird, ist eine positive Empfehlung durch die Expertengruppe Off-Label notwendig. Diese hat sich ausführlich mit der derzeitigen wissenschaftlichen Evidenz von Topiramat und Amitriptylin bei Kindern und Jugendlichen mit Migräne beschäftigt. Ob sie sich für eine Off-Label-Anwendung eines Arzneimittels ausspricht, hängt unter anderem davon ab, ob es sich um eine schwerwiegende Erkrankung handelt, andere Therapiemöglichkeiten fehlen und eine begründete Aussicht auf Erfolg existiert. Kommt die Expertengruppe zu einer positiven Empfehlung, müssen auch die pharmazeutischen Unternehmen einem Off-Label-Use zustimmen, sie haften dann auch im Falle von Nebenwirkungen.

Zur Erinnerung: Was ist ein Off-Label-Use?

Sinngemäß lässt sich „Off-Label-Use“ mit „nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch“ übersetzen. Der G-BA erklärt: „Unter ‚Off-Label-Use‘ versteht man die Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der von den nationalen und europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Indikationen).“ Konkret am Beispiel der Migräneprophylaktika für Kinder und Jugendliche bedeutet das: Topiramat ist für bestimmte Formen der Epilepsie und zur Vorbeugung von Migräne bei Erwachsenen zugelassen, soll nun aber auch bei Kindern eingesetzt werden. Der G-BA beauftragt dann, auf Grundlage eines Erlasses des BMG, die eingerichtete Expertengruppe Off-Label damit, den aktuellen Wissensstand zur Off-Label-Anwendung einzelner Wirkstoffe zu bewerten. Deren Ergebnis setzt der G-BA in der Arzneimittel-Richtlinie um.

Krankenkassen erstatten Off-Label-Use nicht

Am 21. Januar empfahl die Expertengruppe Off-Label, „Amitriptylin und Topiramat nicht für einen zulassungsüberschreitenden Einsatz vorzusehen“, heißt im Klartext: Die Krankenkassen werden Topiramat und Amitriptylin nicht erstatten, sollten die Wirkstoffe off-label zur Prophylaxe von Migräne bei Kindern und Jugendlichen verordnet werden. Die Expertengruppe hält aufgrund der Datenlage weder Amitriptylin noch Topiramat zur Migräneprophylaxe für Kinder und Jugendliche geeignet. Es müsse sogar „für beide Substanzen ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis konstatiert werden“. 

Propranolol ist zugelassen

Zudem führt sie als starkes Argument gegen den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Amitriptylin und Topiramat an, dass es mit Propranolol bereits eine zugelassene Substanz für die Migräneprophylaxe gibt und es Hinweise gebe, dass „nicht-pharmakologische Behandlungsansätze wie z. B. kognitive Verhaltenstherapie (Schmerzverarbeitungsstrategien) besser wirksam sind als die in den Studien untersuchten Medikamente Amitriptylin und Topiramat“.  

Diese Empfehlung setzte der G-BA sodann in einer geänderten Arzneimittel-Richtlinie um, die nun – nach Nichtbeanstandung durch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) – am 10. April in Kraft getreten ist. Konkret finden sich Amitriptylin und Topiramat nun unter Teil B „Wirkstoffe, die in zulassungsüberschreitenden Anwendungen (Off-Label-Use) nicht verordnungsfähig sind“ der Anlage VI der AM-RL

Sind Ausnahmen möglich?

Was ist nun, wenn Kinder andere Prophylaktika nicht vertragen oder Kontraindikationen vorliegen – sind im Einzelfall Ausnahmen möglich? Der G-BA ist hier sehr strikt und erklärt in den Tragenden Gründen zum Beschluss: „Auch bei Unverträglichkeit oder Kontraindikationen im Einzelfall ist es unter Berücksichtigung der zugelassenen medikamentösen Therapiealternative sowie den nicht-medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten nicht gerechtfertigt, Wirkstoffe mit negativem Nutzen-Risiko-Verhältnis im Off-Label-Gebrauch bei Kindern und Jugendlichen einzusetzen“. So müsse ein Off-Label-Use dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechen, eine evidenzbasierte Medizin werde zugrunde gelegt, und es müsse „die begründete Aussicht“ auf einen Behandlungserfolg bestehen. Auch habe die Expertengruppe Off-Label keinen Verordnungsspielraum für bestimmte Patientengruppen gelassen – z. B. nach Versagen aller anderen Behandlungsoptionen als „Best Supportive Care“.

Wie kommt die Expertengruppe zu ihrer Empfehlung?

Die Expertengruppe des G-BA stützt ihre negative Nutzen-Risiko-Einschätzung vor allem auf eine „qualitativ hochwertige“ randomisierte klinische Studie, veröffentlicht 2017 im „New England Journal of Medicine“ „Trial of Amitriptyline, Topiramate, and Placebo for Pediatric Migraine“  mit 328 Kindern. Sie erhielten entweder Topiramat (130), Amitriptylin (132) oder Placebo (66). Primärer Endpunkt der Studie war die relative Reduktion der Kopfschmerztage um mindestens 50 Prozent am Ende der 24-wöchigen Studie verglichen mit der 28-tägigen Kopfschmerz-Baseline. „Es gab keine signifikanten Unterschiede in der Reduktion der Kopfschmerzhäufigkeit oder der kopfschmerzbedingten Behinderung bei kindlicher und jugendlicher Migräne unter Amitriptylin, Topiramat oder Placebo über einen Zeitraum von 24 Wochen“, lautete damals das Fazit der Wissenschaftler. 52 Prozent der Amitriptylin-Patienten, 55 Prozent der Topiramat-Patienten und 61 Prozent der Placebo-Patienten erreichten den primären Endpunkt. Nebenwirkungen (Müdigkeit, Mundtrockenheit oder Gewichtsverlust) traten unter Amitriptylin oder Topiramat häufiger auf als unter wirkstofffreier Therapie. Drei Patienten erlitten unter Amitriptylin schwere Stimmungsschwankungen, in der Topiramat-Gruppe trat ein Suizidversuch auf. 

Für Topiramat bewertete die Expertengruppe vier weitere randomisierte, Placebo-kontrollierte Studien: „Zusammenfassend zeigen im Ergebnis der Bewertung der Expertengruppe die kontrollierten Studien mit Topiramat in der Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen ein negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis“, schreibt der G-BA. Für Amitriptylin sehe die Datenlage noch schlechter aus. Es existierten keine randomisierten, Placebo-kontrollierten Studien, die ausschließlich Amitriptylin gegen Placebo getestet hätten.  

Was sagt die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft?

Im Rahmen der Off-Label-Bewertung von Amitriptylin und Topiramat zur Migräneprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen hatte auch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) Stellung genommen. Sie setzte sich dafür ein, dass beide Substanzen „weiter als eine Behandlungsoption, zusätzlich zu den unstrittigen Verfahren aus dem Bereich der kognitiven Verhaltenstherapie oder anderen medikamentösen Verfahren, wie z. B. Betarezeptorenblockern, erhalten bleiben“ und das „Armamentarium von erfahrenen Kopfschmerztherapeuten bei der Behandlung einer besonders schwer betroffenen Klientel nicht grundsätzlich zu beschränken“, begründete sie. So müsse man auch der Versorgungsrealität ins Auge sehen, und vielerorts gebe es schlicht zu wenige psychotherapeutische Therapieplätze für Kinder und Jugendliche mit chronischen und schweren beziehungsweise refraktär verlaufenden Schmerzerkrankungen, sodass Kinder und Jugendliche häufig monatelang auf einen Therapieplatz warten müssten. Zudem kritisierte die DMKG, dass die Expertengruppe des G-BA ihre Entscheidung vornehmlich auf die 2017 im „NEJM“ publizierte Studie (Powers et al. 2017) stützte und anderen positiven Fallserien weniger Beachtung geschenkt würden, die jedoch eine Wirksamkeit von Topiramat und Amitriptylin bei Kindern gezeigt hätten. Die DMKG bemängelt darüber hinaus das Konzept der Studie im „NEJM“: So würden Experten Amitriptylin und Topiramat bei Kindern nicht randomisiert in Monotherapie einsetzen wollen. Topiramat könne depressive Episoden verschlimmern, während z. B. bei begleitenden Schlafstörungen oder erhöhter psychomotorischer Anspannung vor allem von Amitriptylin synergistische Effekte zu erwarten seien.