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Experten fordern bessere Versorgung: Immer mehr Menschen leiden unter Adipositas

Circa 17 Millionen Menschen in Deutschland sind stark übergewichtig. | Bild: Creativa Images / AdobeStock

Etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland sind stark übergewichtig – und während der Corona-Pandemie sind es nach ersten Erkenntnissen noch mehr geworden. Den Betroffenen steht meist nicht ausreichend Hilfe zur Verfügung, kritisieren Experten und Selbsthilfe-Gruppen.

„Oft sagt der Hausarzt ‚Essen Sie weniger und bewegen Sie sich mehr!‘", weiß Michael Wirtz aus Erfahrung. Der 50-Jährige aus Winsen bei Hamburg ist Vorstandsmitglied des Vereins Adipositashilfe Deutschland. Doch so einfach sei das Problem nicht in den Griff zu bekommen. Wer kenne nicht den Jo-Jo-Effekt?

Adipositas: eine Volkskrankheit

„Schon vor der Corona-Pandemie war Adipositas eine Volkskrankheit, nun dürften mehr Menschen betroffen sein als je zuvor – darauf weisen erste Daten hin“, warnt Jens Aberle, Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG).

Damit aus den Corona-Kilos keine Welle schwerwiegender Folgekrankheiten entstehe, müsse die Therapie gestärkt werden, fordert der ärztliche Leiter am Adipositas-Centrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). 13 Krebsformen werden mit Adipositas in Zusammenhang gebracht, zudem unter anderem Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfall.

Über die Hälfte der Erwachsenen in Europa sind übergewichtig

Nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) waren bereits vor Pandemiebeginn bundesweit rund 16 Millionen Erwachsene und etwa 800.000 Kinder und Jugendliche von Adipositas betroffen. Alarmierende Zahlen veröffentlichte Anfang Mai auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Europäischen Fettleibigkeitsbericht 2022. Demzufolge sind mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Europa übergewichtig oder adipös.

Gut zu wissen: Wann spricht man von Adipositas?

Als adipös gelten Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30. Übergewicht beginnt bei einem BMI von über 25. Der BMI ist der Quotient aus Körpergewicht und Körpergröße im Quadrat (kg/m2).

Wer über 200 oder gar an die 300 Kilogramm wiegt, kann sich kaum noch bewegen. Ursache für den extremen Gewichtszuwachs auf über 200 Kilo ist meist ein besonderer Auslöser: Jobverlust, Trennung vom Partner, auch die Corona-Pandemie war teils ein Beschleuniger. Oft werden Betroffene aus Unwissenheit oder Gemeinheit als faul oder willensschwach beschimpft. Viele erlebten Hänseleien bis hin zu Mobbing von klein auf.

Unzureichende Therapien

„Die Adipositas-Therapie ist in Deutschland chronisch unterfinanziert“, sagt der Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Jens Aberle. Ob beispielsweise Kosten für eine Ernährungsberatung oder eine Bewegungstherapie übernommen werden, hänge von der individuellen Zustimmung der Krankenkasse ab. „Andere Therapieoptionen wie die medikamentöse Behandlung werden grundsätzlich nicht erstattet“, beklagt der ärztlicher Leiter am Adipositas-Centrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Adipositas sei eine chronische Krankheit und keine Lebensstil-Entscheidung, betont Aberle. Notwendig sei professionelle Hilfe.

Derzeit beginne die Therapie oft zu spät, kritisiert auch Wirtz. „Menschen mit Adipositas sind in Deutschland unterversorgt.“ Wichtig sei ein individueller Plan, der aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie bestehe. Es müssten auch mögliche psychische Erkrankungen abgeklärt werden. Zudem sei zu entscheiden, ob eine konservative Therapie ausreiche oder ein chirurgischer Eingriff möglich und notwendig sei.

Laut einem vor kurzem im „Deutschen Ärzteblatt“ erschienenen Aufsatz werden bundesweit etwa 20.000 adipositaschirurgische Operationen pro Jahr durchgeführt. Die am häufigsten angewendeten Verfahren führten zu einem Verlust von 27 bis 69 Prozent des überschüssigen Körpergewichts nach mehr als zehn Jahren, hieß es. Allerdings sei eine lebenslange Nachsorge erforderlich.

Die Krankenkassen zahlten häufig erst die chirurgischen Eingriffe, aber keine anderen Programme, bemängelt Wirtz. Das Iges Institut, ein Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen, schätzte die indirekten Kosten der Adipositas bereits 2016 auf 6 bis 33 Milliarden Euro pro Jahr.

Spezialpflegebereich für Menschen mit starker Adipositas

Es ist ein Teufelskreis: Häufig schaffen es Personen mit extremem Übergewicht irgendwann nicht mehr aus ihrer Wohnung und nehmen weiter zu. In Hannover öffnete im August 2021 ein Spezialpflegebereich für Menschen mit starker Adipositas im Alter zwischen 30 und 60 Jahren. Nach Angaben des Betreibers Diakovere gibt es bundesweit bisher nur eine Handvoll derartiger Einrichtungen, meist mit dem Fokus allein auf der Pflege.

In Hannover werden dagegen individuelle Therapiepläne aufgestellt – in Abstimmung mit dem Kompetenzzentrum für Adipositaschirurgie und der Klinik für Psychosomatik der Diakovere. Bausteine sind Bewegungsangebote, die Umstellung der Ernährung sowie psychologische Unterstützung.

„Die Menschen auf der Station bezeichnen wir bewusst als Patienten, nicht als Bewohner“, sagt Pflegeleiterin Yvonne Sabovic-Dunsing. Ziel sei die Rückkehr nach Hause und in den Job. Sechs Plätze stehen zur Verfügung, täglich gehen Anfragen aus ganz Deutschland und sogar dem deutschsprachigen Ausland ein. Vier Männer und zwei Frauen werden derzeit begleitet. Bei der Aufnahme war keiner mehr in der Lage zu arbeiten. Quelle: dpa / vs