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Welt-MS-Tag am 30. Mai 2021: Einmal MS-Arzneimittel, immer MS-Arzneimittel?

Welche Verlaufsformen von MS gibt es und welche Arzneimittel sollten wann eingesetzt werden? | Bild: Chinnapong / AdobeStock

„#StayConnected – wir bleiben in Verbindung“: Unter diesem Motto steht der Welt-MS-Tag 2021 – gar nicht so einfach, wenn Multiple Sklerose die Patienten nahezu in allen Bereichen des Lebens einschränkt. Zumindest meldet die Wissenschaft immer wieder Fortschritte: Sei es die Zulassung weiterer Arzneimittel, positive Ergebnisse zur „mRNA-Impfung“ gegen MS oder neue Erkenntnisse zur Rolle des Mikrobioms. Wie sollte also im Jahr 2021 nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft Multiple Sklerose behandelt werden? Mit ein bisschen Vorsprung zum Welt-MS-Tag hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) vor kurzem die neue S2K-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ veröffentlicht.

Arzneimittel anhand ihrer Schubreduktion eingeteilt

Die Leitlinie teilt die verlaufsmodifizierenden MS-Arzneimittel (DMT: disease modifying therapies) neu ein: Anstelle des bisherigen Stufenschemas – Basistherapie, Eskalationstherapie, Schubtherapie – gruppieren die Leitlinienautoren die Arzneimittel entsprechend ihrer Schubreduktion, die sie in Zulassungsstudien gezeigt haben, in drei Wirksamkeitskategorien: 

  • Wirksamkeitskategorie 1: Beta-Interferone, Dimethylfumarat (Tecfidera®), Glatirameroide (Copaxone®) und Teriflunomid (Aubagio®)
  • Wirksamkeitskategorie 2: Cladribin (Mavenclad®), Fingolimod (Gilenya®) sowie Ozanimod (Zeposia®)
  • Wirksamkeitskategorie 3: Alemtuzumab (Lemtrada®), CD20-Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®) und Rituximab im Off-Label-Einsatz, Natalizumab (Tysabri®).

Mit zunehmender Wirksamkeit steigen auch die seltenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen. 

Diese Einteilung greift nur für schubförmige Multiple Sklerose – bei primär progredienter MS (PPMS) ist bislang mit Ocrelizumab nur ein einziges Arzneimittel zugelassen. Bei einer PPMS verläuft die Erkrankung schleichend und nicht in Schüben. 

Gut zu wissen: Verlaufsformen von MS

  • schubförmig remittierende MS – RRMS (relapsing-remitting MS): häufigste initiale Verlaufsform. Sie ist charakterisiert durch Schübe mit vollständigem oder unvollständigem Rückgang der Symptome (Remission).
  • sekundär progrediente MS – SPMS (secondary progressive MS): entwickelt sich aus einer RRMS. Die fortschreitende Behinderung kann mit oder ohne aufgesetzte Schübe erfolgen. Für die Einordnung als SPMS gibt es keine festgelegte Dauer des fortschreitenden Krankheitsverlaufs (Progressionsdauer). Oft wird jedoch eine schubunabhängige Progressionsdauer von mindestens sechs bis zwölf Monaten gefordert.
  • primär progrediente MS – PPMS (primary progressive MS): Die Behinderung verläuft von Beginn an fortschreitend, es können vereinzelte Schübe vorkommen.
  • klinisch isoliertes Syndrom (KIS): eine mutmaßlich erste klinische Manifestation von MS. Ein KIS zeigt sich durch einen Schub mit einem neurologischen Defizit, welches sich mit MS vereinbaren lässt. 

Zusätzlich lassen sich die MS-Formen RRMS, SPMS und PPMS noch feiner unterteilen: In aktiv bzw. nicht aktiv und progredient bzw. nicht progredient. Unter „aktiv“ versteht man dabei, dass Schübe auftreten und/oder sich MRT-Aktivität nachweisen lässt. „Progredient“ (voranschreitend) bedeutet, dass die Behinderung im zeitlichen Verlauf zunimmt. 

Die Europäische Arzneimittelagentur teilt die Multiple Sklerose zudem wie folgt ein: Sie unterscheidet die RMS (relapsing MS = MS mit Schüben) von einer SPMS und einer PPMS. Dabei umfasst eine RMS laut EMA sowohl die RRMS als auch eine SPMS mit aktiven Schüben (sogenannte aktive SMPS). 

Neue Arzneimittel bei MS

In den letzten drei Jahren hat sich einiges getan, was die Zulassung von MS-Arzneimitteln betrifft: Mit Ocrelizumab kam 2018 die erste Therapieoption für Patienten mit PPMS auf den Markt. Im selben Jahr erhielt Fingolimod eine Zulassungserweiterung und darf seither auch bei Kindern ab zehn Jahren mit hochaktiver schubförmiger MS angewendet werden.

Und auch für Patienten mit einer sekundär progredienten MS gibt es seit 2020 eine neue Behandlungsmöglichkeit: Siponimod (Mayzent®). Wie auch das altbekannte Fingolimod ist Siponimod ein Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Rezeptor-Modulator. Es verhindert, dass Lymphozyten aus den Lymphknoten austreten und ins ZNS gelangen. Eingesetzt werden darf Siponimod bei SPMS, die aktiv oder hochaktiv verläuft (Schübe und MRT-Aktivität). 

Das gleiche Prinzip verfolgt der im selben Jahr zugelassene dritte S1P-Rezeptormodulator Ozanimod (Zeposia®). Dieser ist zugelassen bei aktiver schubförmig-remittierender MS (RRMS). Noch nicht in der Leitlinie aufgenommen ist Ofatumumab (Kesimpta®): Der B-Zell-Antikörper darf erst seit März 2021 in der EU angewendet werden, und zwar bei schubförmiger MS mit aktivem Verlauf. Es ist der erste B-Zell-Antikörper zur subcutanen Selbstverabreichung.

Wann welches MS-Arzneimittel?

Arzneimittel der Wirksamkeitskategorie 1 sieht die Leitlinie vor, wenn „kein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf“ vorliegt. Liegt hingegen ein „wahrscheinlich hochaktiver“ MS-Verlauf vor, können – bei therapienaiven Patienten, also MS-Patienten, die noch nie ein MS-Arzneimittel erhalten haben – Arzneimittel der zweiten und dritten Kategorie eingesetzt werden. 

Doch woher weiß man nun, ob bei bislang therapiefreien Patienten die Erkrankung „wahrscheinlich hochaktiv“ fortschreitet? Hier hilft die Leitlinie weiter: So sei von einem wahrscheinlich hochaktiven Verlauf auszugehen, wenn  

  • ein Schub zu einer schweren alltagsrelevanten Einschränkung geführt hat (nach Schubtherapie) und/oder
  • sich der Patient von den ersten beiden Schüben schlecht erholt und/oder
  • bei häufigen Schüben und/oder
  • der Patient innerhalb eines Jahres einen EDSS (Skala zur Beurteilung des Schweregrades der Behinderung) von 3 oder höher erreicht und/oder
  • eine Beteiligung der Pyramidenbahn im ersten Krankheitsjahr vorliegt.

Zur Erinnerung: Was ist die Pyramidenbahn?

Unter Pyramidenbahn versteht man Nervenbahnen, die vom ZNS zu den Motoneuronen ziehen. Sie sind für eine willkürliche Motorik verantwortlich und werden der Feinmotorik zugeordnet. Bei einer Schädigung kommt es zur Lähmung (Parese).

Erhalten die Patienten bereits Arzneimittel der Wirksamkeitskategorie 1 und die MS verläuft dennoch „entzündlich aktiv“, soll nach Ansicht der Leitlinie eskaliert werden – je nach Krankheitsaktivität auf Arzneimittel der Kategorie 2 oder 3. Auch hier stellt sich jedoch die Frage: Was versteht man unter „entzündlich aktiv“? Dies ist der Fall, wenn trotz Immuntherapie  

  • mindestens ein klinisch eindeutig objektivierbarer Schub oder
  • ein klinischer Schub und mindestens eine neue MS-typische Läsion in der MRT oder
  • sich bei schubfreien Patienten zu mindestens zwei Zeitpunkten mindestens eine neue MS-typische Läsion in der MRT nachweisen lässt (Zeitraum: ein bis zwei Jahre).

Was ist mit Patienten, die keine schubförmige Multiple Sklerose, sondern eine primär progrediente MS haben? Diese Patienten sollen der aktuellen Studienlage zufolge nur CD20-Antikörper – Ocrelizumab, Rituximab (off-label) – erhalten. Vor allem jüngere Patienten scheinen von den B-Zell-depletierenden Behandlungen zu profitieren, hingegen sollte bei ab 50-jährigen Patienten die Indikation „sehr streng“ gestellt werden. Liegt eine sekundär progrediente MS-Erkrankung vor (SPMS), rät die Leitlinie zu Siponimod, Beta-Interferonen, Cladribin und CD20-Antikörpern. Junges Lebensalter, kurze Krankheitsdauer, geringer Behinderungsgrad, überlagerte Schübe oder rasche Zunahme der Behinderung und der Nachweis von entzündlicher Aktivität in der MRT seien Argumente für eine Immuntherapie. 

Einmal MS-Arzneimittel, immer MS-Arzneimittel?

Gibt es eigentlich die Möglichkeit, dass Patienten, die keine Krankheitsaktivität zeigen, ihre MS-Arzneimittel auch wieder absetzen können? Diese Option räumen die Leitlinienautoren durchaus ein. Allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen und nur für Patienten, die Arzneimittel der Wirksamkeitskategorie 1 erhalten – Beta-Interferone, Dimethylfumarat, Glatirameroide und Teriflunomid. Zeigen Patienten unter diesen Arzneimitteln keine Krankheitsaktivität und hatten bereits vor Therapiebeginn nur eine geringe Krankheitsaktivität, kann nach Einschätzung der Leitlinienautoren „bei entsprechendem Patientenwunsch“ und „nach einem Zeitraum von mindestens fünf Jahren“ eine Therapiepause erwogen werden.

Muss sofort beim ersten Schub therapiert werden?

Sollten Patienten direkt nach Diagnosestellung eine Immuntherapie anwenden oder kann man vielleicht auch abwarten, ob es sich um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat? Die Leitlinie empfiehlt hier klar: „Bei Patienten mit KIS oder MS soll eine Immuntherapie begonnen werden.“ Allerdings sei ein therapiefreies Zuwarten möglich, wenn ein milder MS-Verlauf erwartet würde und der Patient engmaschig überwacht werde. Wichtig ist, dass nur einige Beta-Interferone und die Glatirameroide für die Behandlung eines KIS zugelassen sind.

Gut zu wissen: Die Prognose bei MS 

Den Leitlinienautoren zufolge hat sich die Prognose der MS-Erkrankung in den letzten Jahren „deutlich“ verbessert. In den 1980er-Jahren erreichten noch 50 Prozent aller Patienten nach 15 Jahren einen Behinderungsgrad (EDSS) von 6. 50 Prozent aller Patienten mit remittierend schubförmiger MS entwickelten nach 20 Jahren eine sekundär progrediente MS. 

Nun gebe es „belastbare Hinweise auf eine inzwischen deutlich bessere Prognose“, erklären die Leitlinienautoren: Etwa 90 Prozent aller MS-Patienten hatten 10 bis 16 Jahre nach Erkrankungsbeginn einen EDSS unter 6. Ganz aktuelle Daten stammen aus dem Jahr 2020 von der Londoner KIS-Langzeitkohorte: 30 Jahre nach Erkrankungsbeginn blieben 42 Prozent der Patienten unter einem EDSS von 3,5, obwohl nur 10 Prozent der Patienten jemals eine Immuntherapie erhielten. Nur 40 Prozent der Patienten hatten einen EDSS von 6,0 oder höher. 

Zum Teil seien die Verbesserungen auf bessere therapeutische Möglichkeiten zurückzuführen, allerdings tragen den Wissenschaftlern zufolge auch „Verdünnungseffekte“ durch eine frühere und feinere Diagnosestellung bei. Sie betonen, dass sich diese Richtzahlen nicht für eine individuelle Prognose in der Patientenberatung eigneten. Was sich jedoch gezeigt habe: Es sei prognostisch von Bedeutung, nach welcher Zeit der Patient einen EDSS von 4 erreiche. Ungünstige Faktoren seien ein später und polysymptomatischer Krankheitsbeginn, das männliche Geschlecht, sich unvollständig zurückbildende Schübe und eine hohe Schubrate zu Beginn der Erkrankung.