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Gentherapeutikum gegen Hämophilie A

Hautstelle mit sichtbarem Bluterguss
Menschen mit schwerer Hämophilie A leiden unter verstärkter Blutungsneigung. | Bild: Astrid Gast / AdobeStock

Hämophilie A ist eine seltene Erkrankung, bei der kein oder nur unzureichend Gerinnungsfaktor VIII gebildet wird. Die Folgen sind verstärkte Blutungsneigung bzw. längere und teils lebensbedrohliche Blutungen. Die Erkrankung kann in milden und schweren Formen auftreten. In der EU sind 0,7 von 10.000 Menschen davon betroffen. 

Therapiert werden Betroffene häufig mit Faktor-VIII-Präparaten. Die dafür notwendigen Injektionen werden monatlich oder mehrmals wöchentlich verabreicht und können sich negativ auf deren Lebensqualität auswirken. Neue Therapieansätze sind demnach gefragt.

Roctavian als Therapieoption gegen Hämophilie A

Valoctocogen Roxaparvovec (Roctavian) bietet einen neuen Ansatz für die Behandlung von Hämophilie A. Bei dem Wirkstoff handelt es sich um ein modifiziertes Adeno-assoziiertes Virus (AVV), welches als Vektor das Gen mit dem Bauplan für die Bildung des Faktors VIII auf Körperzellen übertragen kann. Auf diesem Weg wird die genetische Information in die Leberzellen eingeschleust. Daraufhin produzieren die Leberzellen den Gerinnungsfaktor VIII und geben ihn ins Blut frei, wo er den Ablauf einer Gerinnungsreaktion ermöglicht. 

Dass das prinzipiell funktioniert, konnte der Hersteller BioMarin International Limited in einer Phase-III-Studie zeigen. In der Studie war das Ansprechen der Patienten allerdings sehr individuell, d. h. die Mehrheit zeigte zwar einen Therapieerfolg, jedoch gab es auch Patienten, die überhaupt nicht oder nur in geringem Maße auf die Therapie ansprachen. Wie lange der Therapieeffekt anhält, ist bislang unbekannt. Die längste Nachbeobachtung einer Studie dauerte fünf Jahre, nach denen noch positive Effekte beobachtet werden konnten.

Ziele der Therapie mit Roctavian sind, neben der Wiederherstellung der körpereigenen Faktor-VIII-Produktion, Blutungsereignisse und den Bedarf an Faktor-VIII-Präparaten zu verringern.

Erhöhte Leberwerte als Nebenwirkung

Bei der Therapie mit Roctavian traten erhöhte Werte des Leberenzyms Alanin-Aminotransferase (ALT) auf. Diese Nebenwirkung lässt sich allerdings gut mit Corticosteroiden behandeln, wobei auch diese Wirkstoffklasse wiederum unerwünschte Nebenwirkungen verursachen kann.

EMA: Zulassung für Roctavian

Im August 2022 wurde Roctavian EU-weit als erstes Gentherapeutikum zur Behandlung der schweren Hämophilie A zugelassen. Die Entscheidung stützt die EMA auf die Ergebnisse der Phase-III-Studie. Bei der Mehrheit der Patienten waren die Faktor-VIII-Spiegel gestiegen und die Blutungsraten konnten um 85 % gesenkt werden. Die meisten Patienten (128 von 134) benötigten während der Studie keine Faktor-VIII-Präparate mehr. Die Patienten, die Roctavian erhalten haben, sollen für 15 Jahre nachbeobachtet werden, um die Sicherheit und Wirksamkeit der Therapie zu überwachen.

Gefördert wurde Roctavian durch das PRIME-Programm der EMA. PRIME (Priority Medicines) ist für Arzneimittel gedacht, die das Potenzial haben, einen bislang ungedeckten medizinischen Bedarf zu decken. Das Komitee für neuartige Therapien (Committee for Advanced Therapies; CAT) der EMA, das auf zell- und genbasierte Therapien spezialisiert ist, prüfte alle verfügbaren Daten und kam zu dem Schluss, dass bei Roctavian der Nutzen die möglichen Risiken für Hämophilie-A-Patienten überwiegt.

Der Ausschuss für Humanarzneimittel der EMA (CHMP) teilte die positive Meinung des CAT und empfahl die Zulassung. Diese Möglichkeit zum Marktzugang bekam das 2016 als „Orphan-Drug“ eingestufte Medikament aufgrund des ungedeckten medizinischen Bedarfs in der Therapie der schweren Hämophilie A.

Zur Erinnerung: Was sind „Orphan Drugs“?

Der Begriff „Orphan Drug“ (orphan: „die Waise“; drug: „Arzneimittel“) beschreibt Arzneimittel, die bei seltenen Erkrankungen („Orphan Diseases“) zum Einsatz kommen. Die Präparate werden auch „Arzneimittel für seltene Leiden“ oder „Orphan-Arzneimittel“ genannt. Eingeführt wurde der Begriff 1983. 

Arzneimittel für seltene Erkrankungen gelten für die Pharmazeutische Industrie als wenig gewinnbringend. Denn: Dadurch dass nur sehr wenige Menschen an der Erkrankung leiden, benötigen auch nur sehr wenige Menschen das Präparat – der Markt ist überschaubar, sodass in aller Regel der Verdienst an dem Arzneimittel gering ist. Die Kosten für die Erforschung und Entwicklung dieses Medikamentes sind jedoch genau so hoch wie bei anderen Arzneimitteln. 

Wie also schafft man es, dass dennoch Arzneimittel für Patienten mit seltenen Erkrankungen entwickelt werden? Im Rahmen einer EU-Verordnung hat die Politik Anreize für die Industrie geschaffen – wie beispielsweise geringere Gebühren bei der Zulassung und der Schutz, dass innerhalb von zehn Jahren keine Arzneimittel gegen dieselbe Erkrankung zugelassen werden dürfen, es sei denn, sie wirken besser. Diese Maßnahmen sollen gewährleisten, dass auch Patienten mit seltenen Erkrankungen Arzneimittel und Therapiemöglichkeiten erhalten.

Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkasse

Der Hersteller BioMarin und der GKV-Spitzenverband haben sich auf ein Vergütungsmodell für das Gentherapeutikum Valoctocogen Roxaparvovec (Roctavian) mit einer Mindestvertragslaufzeit von drei Jahren geeinigt. Damit bekommen Patienten in Deutschland das EU-weit erste Gentherapeutikum zur Behandlung der schweren Hämophilie A in Deutschland durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) erstattet. Vorgesehen wird eine Anpassung des Erstattungsbetrags, basierend auf Therapieerfolgen oder Therapieversagen, welche durch das Deutsche Hämophilieregister (DHR) dokumentiert werden.