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Bei Long COVID besser auf Weizen verzichten?

Patienten mit Zöliakie, die auch als gluteninduzierte Enteropathie bekannt ist, müssen lebenslang auf glutenhaltige Getreide wie Weizen, Dinkel oder Roggen verzichten. Nun häufen sich Erfahrungsberichte, dass auch Betroffene von Long COVID oder mit dem Post-COVID-Syndrom von einer Reduktion oder Karenz glutenhaltiger Lebensmittel profitieren könnten. Doch welcher Mechanismus steckt dahinter?
COVID und Zöliakie: Gemeinsamkeiten in der Pathophysiologie
Dafür lohnt ein Blick auf Studien sowohl zur Pathophysiologie von Long COVID als auch Gluten und von sogenannten Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs), die beispielsweise hinter Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizen-Allergie-Weizensensitivität stecken.
Die Gemeinsamkeit: eine sowohl über das SARS-CoV-Spike-Protein als auch über Gluten und sogenannte ATIs via Toll-Like-Rezeptor-4(TLR-4)-vermittelte Befeuerung von Entzündung. TLR-4 ist ein Rezeptor des angeborenen Immunsystems, der in vielen Zelltypen exprimiert wird, wie beispielsweise Makrophagen, Darmepithelzellen und Mikroglia im Gehirn.
Long COVID: TLR-4-getriggerte Entzündung
Wann eine COVID-Infektion nicht nur zu einem kurz andauernden Infekt führt, sondern in Komplikationen wie einem langanhaltenden Verlauf mündet, scheint von vielfältigen Faktoren abzuhängen.
Sowohl Adipositas und vorbestehende Herz-Kreislauf-Erkrankungen als auch beispielsweise das weibliche Geschlecht erhöhen das Risiko. Eine Metaanalyse fasste 103 Studien zusammen und kommt zu dem Schluss, dass Long COVID auf einem aktivierten Immunsystem basiert und Immun-vermittelte Neurotoxizität sowie entzündliche Signalkaskaden eine Schlüsselrolle in der Pathophysiologie einnehmen.
Im Fokus steht also eine überschießende Entzündungsreaktion mit anhaltender Dysbalance des Immunsystems und proinflammatorischer Lage.
Spike-Protein aktiviert TLR-4
Studien konnten mittlerweile zudem zeigen, dass das Spike-Protein einerseits direkt eine Entzündungsreaktion auslöst, die über den Toll-Like-Rezeptor 4 (TLR-4) vermittelt wird und zu einer NF-kB-Aktivierung führt.
Andererseits hemmt das Spike-Protein gleichzeitig das körpereigene antioxidative Schutzsystem NRF2, das diese Reaktion bremsen sollte, und bringt es in eine Dysbalance.
TLR-4 scheint insbesondere bei „Hirnnebel“ (Brain Fog) und Symptomen wie Gedächtnisstörungen und kognitiven Einschränkungen von besonderem Interesse zu sein.
In einem Versuch, bei dem Mäusen das Spike-Protein infundiert wurde, traten späte kognitive Dysfunktionen auf: Im Hippocampus der Tiere, das entscheidend für Lernen und Gedächtnis ist, kam es zum Synapsen-Verlust und die Mikroglia wurde aktiviert. Dieser Effekt trat jedoch nicht auf, wenn zuvor der TLR-4-Rezeptor blockiert wurde.
Darmdysbiose aktiviert ebenfalls TLR-4
TLR-4 wird ebenfalls von Lipopolysacchariden (LPS) aktiviert, da sie als pathogene Muster vom Immunsystem erkannt werden, wodurch sie proentzündliche Prozesse auslösen. LPS sind Strukturbestandteil der äußeren Membran von Gram-negativen Bakterien.
Das spielt insbesondere in Bezug auf den Darm eine große Rolle, da physiologisch eine große Anzahl an Bakterien im Darm vorkommt. Liegt eine intestinale Dysbiose und/oder eine erhöhte intestinale Permeabilität vor, ist es möglich, dass vermehrt Lipopolysaccharide den Darm passieren und das Immunsystem verstärkt über TLR-4 antriggern.
In der Folge werden vermehrt proentzündliche Zytokine wie TNF-alpha, Interleukine und Interferone sowie Prostaglandine ausgeschüttet, die über den Blutkreislauf auch systemisch wirken.
Kürzlich zeigten Publikationen, dass Lipopolysaccharide zusätzlich direkt mit dem Spike-Protein von SARS-CoV-2 interagieren und die proinflammatorische Aktivität über nuclear-faktor-kappa B (Nf-kB) erhöhen.
Gluten & ATIs stören Darmbarriere und triggern Entzündung
Doch wie hängt all das mit Weizen zusammen? Ein Blick auf die sogenannte Nicht-Zöliakie-Nicht-Allergie-Weizensensitivität könnte auf die richtige Spur führen. Denn während bei Zöliakie als Autoimmunprozess Antikörper und Entzündungsprozesse in der Biopsie nachweisbar sind, treten bei dieser Sensitivität zwar gastrointestinale Symptome auf, es wurden jedoch – wie der Name verrät – sowohl Zöliakie als auch Weizen-Allergie ausgeschlossen.
Als Haupttrigger scheinen sogenannte Amylase-Trypsin-Inhibitoren für die Symptome verantwortlich zu sein. Diese Enzyme befinden sich ebenfalls in Weizen und glutenhaltigen Getreiden und machen beispielsweise bis zu 2 bis 4 Prozent des Weizen-Eiweißes aus. Sie sind hochgradig resistent gegenüber Proteasen oder Hitze.
Diese Enzyme aktivieren ebenfalls den Toll-Like-Rezeptor 4 in Monozyten, Makrophagen und dendritischen Zellen der intestinalen Mucosa. Bei Verzehr fungieren Sie als Co-Stimulator von Antigen-präsentierenden Zellen.
Nicht nur bei Zöliakie, sondern auch bei weiteren immunologischen Erkrankungen innerhalb und außerhalb des Gastrointestinaltrakts fördern sie die T-Zell-Aktivierung und aktivieren das angeborene Immunsystem unabhängig von Lipopolysacchariden.
ATIs: Sauerteig unterstützt Abbau
Da Hitze ATIs nichts ausmacht, bleiben sie auch in prozessierten oder gebackenen Lebensmitteln wie Brot enthalten. Glutenhaltige Lebensmittel haben dabei einen bis zu 100-fach höheren ATI-Gehalt als glutenfreie Alternativen.
Getreide ist jedoch nicht Getreide: Die Bioaktivität der ATIs in älteren Weizen-Varianten wie Emmer oder Einkorn sind deutlich niedriger als im modernen Weizen. Auch Brot ist nicht gleich Brot. Denn durch eine lange Teigführung oder Sauerteig kann ein Teil der ATIs abgebaut werden.
Wissenschaftler fanden heraus, dass die Aktivierung von Toll-Like-Rezeptor 4 und damit die Entzündung proportional zur aufgenommenen Menge verläuft. Es lohnt sich also, die Menge glutenhaltiger Lebensmittel zu reduzieren. Laut Wissenschaftlern enthält unsere normale typische Ernährung ausreichend hohe Mengen ATIs, um eine unterschwellige Entzündung zu befeuern.
ATIs: Auch Tight Junctions werden gestört
In einem Tierversuch an Mäusen aktivierte der Konsum von Weizen und ATIs-haltiger Nahrung tatsächlich TLR-4, verschlimmerte eine bestehende Colitis bei den Tieren und veränderte die Darmflora. Bei genetisch veränderten Mäusen ohne TLR-4 trat die Verschlimmerung der Colitis bei Verzehr von ATI-haltiger Nahrung hingegen nicht auf.
Zusätzlich zeigen Studien, dass ATIs durch die Freisetzung proinflammatorischer Zytokine die sogenannten Tight Junctions im Darm stören. Sie sind für dichte Zell-Zell-Kontakte des Darmepithels verantwortlich und gewährleisten eine dichte Darmbarriere.
Ähnliches wird – insbesondere bei vorgeschädigten Darmzellen – auch für Gliadin (= Gluten-Eiweiß) diskutiert. Eine Störung der Tight Junctions führt zu einer erhöhten intestinalen Permeabilität und einer stärkeren Triggerung des Immunsystems durch Lipopolyssacharide, die in der Folge ebenfalls über TLR-4-Rezeptoren eine verstärkte proinflammatorische Reaktion auslösen. Das wiederum erhält die Problematik bei bestehender Dysbiose und Inflammation und mündet möglicherweise in einen Teufelskreis.
Weizen-Produkte bei Long COVID: Hohe Insulinspiegel meiden
Zu beachten ist auch: Glutenhaltige Lebensmittel wie Weizenbrötchen haben einen hohen glykämischen Index und können – insbesondere bei Insulinresistenz – zu hohen Insulinspiegeln führen.
Dies kann wiederum durch die Insulinspitzen die Freisetzung proinflammatorischer Zytokine wie Interleukin 6 fördern. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass auch Diabetes mellitus sowie Adipositas, welche häufig mit Insulinresistenz einhergeht, mit einem erhöhten Risiko für schwere oder lange Verläufe einer COVID-Infektion assoziiert sind.
Viele ganzheitlich und funktionell-medizinisch arbeitende Ärzte empfehlen daher schon länger, das Augenmerk auf einen konstanten Blutzuckerspiegel zu legen.
Glutenhaltige Lebensmittel reduzieren
Alles in allem scheint eine glutenfreie Ernährung bei bestimmten Erkrankungen also nicht nur ein Hype zu sein. Vielmehr gibt es in der aktuellen Literatur durchaus vielfältige Hinweise, dass diese Ernährungsform positive Auswirkungen auf das Krankheitsgeschehen nehmen kann.
Jedes strikte Verbot ganzer Lebensmittelgruppen birgt jedoch die Gefahr einer einseitigen Ernährung, die wiederum zu Mängeln oder Fehlernährung führen kann. Wollen Betroffene eine glutenfreie Ernährung ausprobieren, sollten sie unbedingt auf eine abwechslungsreiche, ausgewogene Ernährung achten und ihr Vorhaben mit ihrem Arzt oder einem Ernährungsberater besprechen.
Da bei Amylase-Trypsin-Inhibitoren ein Dosis-abhängiger Effekt festgestellt werden konnte, erscheint es angesichts der Studien aber in jedem Fall sinnvoll, dass Betroffene kritisch die Verzehrhäufigkeit, Verzehrmenge sowie Auswahl und Qualität glutenhaltiger Lebensmittel (z. B. Sauerteig-Brot statt Weizenbrötchen) hinterfragen. Quellen:
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https://www.cell.com/cell-reports/fulltext/S2211-1247(23)00200-0?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS2211124723002000%3Fshowall%3Dtrue
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36240490/
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1521691815000499?via%3Dihub
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27993525/
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32251667/