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MS-Antikörper Ocrevus®: Wie sicher ist Ocrelizumab in der Schwangerschaft?

In einer kleinen Studie konnten Wissenschaftler nachweisen: Ocrelizumab hat keine negativen Auswirkungen auf eine Schwangerschaft. | Bild: Kirill Gorlov / AdobeStock

In der Fachinformation zum MS-Antikörper Ocrelizumab rät Zulassungsinhaber Roche, dass MS-Patientinnen mit Kinderwunsch frühestens zwölf Monate nach der letzten Ocrelizumab-Infusion schwanger werden und zuvor sicher verhüten sollten – die Gabe erfolgt halbjährlich. Bei einer bestätigten Schwangerschaft sollte Ocrelizumab abgesetzt werden. 

Nicht immer lassen sich Schwangerschaften jedoch punktgenau planen. Was ist also, wenn die gewünschte mehrmonatige Latenz nicht eingehalten wurde und die Frau früher schwanger wird? Erhöht Ocrelizumab dann das Risiko für Frühgeburten oder für Fehlbildungen beim Kind? Dazu gibt es neue Daten aus einer kleinen klinischen Studie, veröffentlicht Anfang März 2022„Pregnancy outcome following exposure to ocrelizumab in multiple sclerosis“ , veröffentlicht in „Multiple Sclerosis Journal – Experimental, Translational and Clinical“ . Die Studienergebnisse muten beruhigend an.

Eine Studie mit vielen Fragen

Wissenschaftler werteten 14 Schwangerschaften von zwölf MS-Patientinnen aus: Die Frauen waren auf Ocrelizumab eingestellt und hatten den B-Zell-Antikörper vor Empfängnis oder bereits in der Schwangerschaft – und zwar im ersten Schwangerschaftsdrittel – erhalten. Nachdem die Schwangerschaft bestätigt war, wurde Ocrelizumab pausiert.

Folgende Fragen interessierten die Wissenschaftler:  

  • Wie viele Babys kamen zu früh zur Welt (Frühgeburt vor Abschluss von 37 Schwangerschaftswochen)?
  • Wie oft kam es zu Totgeburten (Verlust/Tod des Babys nach der 20. Schwangerschaftswoche)?
  • Wie viele Neugeborene wogen zu wenig bei der Geburt (niedriges Geburtsgewicht < 2.500 g)?
  • Kam es zu Fehlbildungen beim Baby?
  • Gab es Komplikationen bei der Mutter?

Von 14 Babys kamen 13 lebend zur Welt. Es gab keine Totgeburten – eine Schwangerschaft wurde aufgrund einer Chromosomenstörung abgebrochen, die nicht im Zusammenhang mit Ocrelizumab steht. Auch entbanden alle Frauen zwischen Woche 38 und 40 der Schwangerschaft, sodass es zu keiner Frühgeburt kam. Hinsichtlich des Geburtsgewichts lieferte die Studie ebenfalls beruhigende Ergebnisse: Die Neugeborenen wogen zwischen 2.620 g und 4.018 g (Median: 3.364,5 g) und wiesen damit kein zu niedriges Geburtsgewicht auf.

Keine gehäuften Fehlbildungen, Früh- und Totgeburten

Ein Baby kam mit einer angeborenen Fehlbildung zur Welt, ein weiteres mit Atemnot, die sich allerdings spontan – ohne Behandlung – besserte. 

Die Wissenschaftler berichten zudem über ein Neugeborenes, das mit einer „hyalinen Membran“ geboren wurde – diese besteht aus einem Gemisch aus Fibrin, Zelltrümmern, Proteinen und Mukopolysacchariden und kleidet die Alveolen der Atemwege aus. Die Folge: Ein erschwerter Gasaustausch in den Lungen des Neugeborenen, was eine Intubation erforderte. Das Baby entwickelte zudem eine Sepsis (Blutvergiftung) und zeigte einen Anstieg der Leukozyten (weiße Blutkörperchen). Bereits im Mutterleib gab es Auffälligkeiten: So kam es zu einer Plazentainsuffizienz und die Fruchtblase war mit weniger als 500 ml Fruchtwasser gefüllt, normal sind ab der 30. Schwangerschaftswoche etwa 1.000 ml. Doch steht dies in Verbindung mit Ocrelizumab? 

Ein Zusammenhang zwischen Ocrelizumab und einer Plazentainsuffizienz ist den Wissenschaftlern zufolge bislang nirgends beschrieben, auch bei der kindlichen Sepsis sehen sie Ocrelizumab nicht als Ursache: Die Frau hatte den MS-Antikörper acht Wochen vor Empfängnis erhalten und Ocrelizumab kann im ersten Schwangerschaftsdrittel die Plazenta nicht überschreiten. Zum Zeitpunkt der Schwangerschaft, als ein Plazentaübertritt möglich gewesen wäre, war Ocrelizumab jedoch bereits wieder vollständig aus dem Körper der Patientin ausgeschieden (Ocrelizumab ist nach 4,5 Monaten vollständig aus dem Körper eliminiert).

Ocrelizumab-Pause: Verschlechtert sich die MS bei der Mutter?

Eine Frage, die MS-Patientinnen mit Kinderwunsch ebenfalls umtreibt, ist: Was passiert, wenn sie die Ocrelizumab-Behandlung während der Schwangerschaft pausieren? Verschlechtert sich dadurch die MS? 

Auch hierzu haben die Wissenschaftler in der kleinen Studie Daten erhoben: Im Durchschnitt hatten die Frauen Ocrelizumab für 65,1 Wochen, also eineinviertel Jahre, pausiert. Keine der Patientinnen erlitt in dieser Zeit einen Schub, sie waren stabil. Zudem konnten die Wissenschaftler auch keine Häufung von Infektionen – auch nicht von Plazenta und Fruchtwasser – feststellen. Eine Sorge, die aufgrund der immunsuppressiven Wirkung von Ocrelizumab durchaus berechtigt sein könnte.

Zulassungsänderung aufgrund der Daten nicht möglich

Die Daten beruhigen für den Fall, dass eine Frau kurz nach Ocrevus®-Gabe schwanger werden oder den Antikörper im ersten Schwangerschaftsdrittel versehentlich erhalten sollte. Um jedoch die Leitlinien zu ändern oder gar die Zulassung, dafür genügt die Auswertung von 14 Schwangerschaften nicht. Die EMA empfiehlt Daten von 1.000 schwangeren Frauen, die einem Arzneimittel im ersten Schwangerschaftsdrittel ausgesetzt sind, um ein Arzneimittel als „sicher“ einzustufen.

So lautet auch das Fazit der Wissenschaftler: „Bei unseren Patientinnen, die vor der Empfängnis oder im ersten Trimester der Schwangerschaft mit Ocrelizumab behandelt wurden, konnten wir keine vermehrten unerwünschten Ereignisse beobachten.“ Sie ergänzen: „Unsere Daten deuten darauf hin, dass MS-Patientinnen, die vor der Schwangerschaft mit Ocrelizumab behandelt wurden, trotz einer längeren Behandlungsunterbrechung einen stabilen Krankheitsverlauf während der Schwangerschaft und in der Zeit nach der Entbindung aufwiesen.“

Gut zu wissen: Das raten EMA, FDA und die Leitlinie

Tierexperimentelle Studien zur embryofetalen Toxizität von Ocrelizumab lieferten bislang keine Hinweise, dass der B-Zell-Antikörper fruchtschädigende (teratogene) Wirkungen hat. Daten am Menschen dazu sind rar. 

Aus diesem Grund rät Roche in der Fachinformation zu Ocrelizumab, dass Frauen im gebärfähigen Alter „während der Behandlung mit Ocrevus® und für 12 Monate nach der letzten Infusion von Ocrevus® eine Empfängnisverhütung“ anwenden „müssen“. 

In der 2021 aktualisierten S2K-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), dass vor Behandlung mit Ocrelizumab eine Schwangerschaft ausgeschlossen werden sollte und eine Schwangerschaft „frühestens vier Monate nach Behandlung mit Ocrelizumab/Rituximab“ zu planen. 

Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) rät zu einer sorgfältigen Schwangerschaftsverhütung für sechs bis zwölf Monate nach der letzten Ocrelizumab-Infusion, die US-amerikanische FDA in den Vereinigten Staaten zu sechs Monaten.

Seit 2018 dürfen Menschen mit MS in der EU Ocrelizumab zur verlaufsmodifizierenden Behandlung der Multiplen Sklerose anwenden. Zugelassen ist der B-Zell-Antikörper sowohl bei schubförmiger MS wie auch bei primär progredienter MS.