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Krank zur Arbeit: Warum Präsentismus schadet

Frau an Schreibtisch putzt sich die Nase
Wer krank ist, sollte besser zu Hause bleiben, statt arbeiten zu gehen. | Bild: AntonioDiaz / AdobeStock

Während der Corona-Pandemie galt lange Zeit: Wer einen positiven COVID-19-Test hat, muss zu Hause bleiben. Diese Regelung gibt es nun nicht mehr und so gehen viele Menschen trotz eindeutiger Symptome und einem Ansteckungsrisiko weiterhin zur Arbeit.  

Auch Husten, Fieber oder starke Kopfschmerzen hindern viele Arbeitnehmer nicht daran, dennoch zu arbeiten. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse(„Präsentismus in einer zunehmend mobilen Arbeitswelt“)  geht mehr als ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland nach eigenen Angaben häufig oder sehr häufig krank zur Arbeit.  

Laut Experten ist dieser Präsentismus jedoch weder für die kranken Arbeitnehmer noch für die Arbeitgeber hilfreich.  

Präsentismus kostet Unternehmen Geld

„Betriebswirtschaftlich gesehen sind die Kosten, die durch Präsentismus entstehen, mindestens so hoch wie die Kosten durch krankheitsbedingte Fehlzeiten“, heißt es bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.  

Nach Einschätzung des Psychologen Simon Hahnzog könnte der Anteil sogar noch größer sein. Die Kosten, die Unternehmen durch Präsentismus entstehen, seien etwa doppelt so hoch wie durch tatsächlich oder angeblich kranke Arbeitnehmer zusammen.  

Präsentismus: Wer krank ist, ist weniger leistungsfähig

Doch wer krank arbeite, sei nur eingeschränkt leistungsfähig, macht Hahnzog deutlich: „Ich bin acht Stunden da, arbeite effektiv aber nur fünf.“ Auch passierten Kranken häufiger Fehler, was wiederum zu Folgekosten führe: „Wenn einer einen Fehler macht, müssen unter Umständen zehn andere eine Stunde mehr arbeiten“, sagt Hahnzog, der auch Firmen zu dem Thema berät. 

„Wer arbeitsunfähig ist, wer mit Kopfschmerzen und triefender Nase an den Arbeitsplatz geht, tut sich selbst und seinen Kollegen im Betrieb keinen Gefallen“, bestätigt auch Dr. Jana Kreß, Leitende Betriebsärztin der Sachverständigenorganisation Dekra. „Wer krank ist, sollte nicht mit letzter Kraft zur Arbeit kommen“, lautet ihr Ratschlag für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.

Gut zu wissen: Arbeiten trotz Krankmeldung?

Grundsätzlich stellt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) kein Arbeitsverbot dar. Sie ist eine vom Arzt getroffene Feststellung, dass der Mitarbeitende momentan nicht diensttauglich ist. 

Ein Arbeitnehmer kann daher trotz AU selbst entscheiden, ob er sich wieder gesund und arbeitsfähig fühlt. Der Arbeitgeber muss sich allerdings davon überzeugen, dass der Mitarbeitende tatsächlich wieder arbeitsfähig ist.  

Experten der Dekra warnen jedoch davor, die Gründe für eine AU auf die leichte Schulter zu nehmen. Arbeitnehmer sollten realistisch einschätzen, ob sie bei einem vorzeitigen Arbeitsantritt dem Betrieb, sich selbst sowie den Kollegen helfen oder eher schaden. Eine Verbreitung von Infektionserregern unter Kollegen wäre für alle Beteiligten kontraproduktiv, betont die Dekra.

Erhöhte Unfallgefahr bei Präsentismus

Neben der erhöhten Fehlerquote ist auch das Unfallrisiko erhöht, wenn man krank zur Arbeit geht. Wenn Medikamente eingenommen werden müssen, kann die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt sein. In solchen Fällen bestehe unter Umständen eine erhöhte Unfallgefahr, betont die Dekra.  

Auf solche Nebenwirkungen muss der behandelnde Arzt aufmerksam machen. Auch in der Apotheke kann bei der Belieferung entsprechender Arzneimittel auf Nebenwirkungen und Nachwirkungen hingewiesen werden.

Homeoffice verleitet zum Präsentismus

Hahnzog geht davon aus, dass die Entwicklungen infolge der Pandemie die Lage sogar noch verschärfen: „Im Homeoffice ist die Schwelle viel kleiner geworden, doch zu arbeiten. So richtig krank bin ich ja nicht, da kann ich mich kurz in einen Zoom-Call schalten.“ 

Die Erholungszeit zu Hause werde verringert. Arbeitnehmer seien nochmal mehr der Eigenverantwortung überlassen worden, sagt Hahnzog. Führungskräfte wiederum hätten den Gesundheitszustand der Mitarbeitenden im Homeoffice weniger gut im Blick.

Auch die Techniker Krankenkasse kommt bei der Auswertung ihrer Studie zu dem Schluss, dass die Option Homeoffice das Problem des Präsentismus verstärkt. So haben 46 Prozent der Befragten angegeben, dass es im Homeoffice häufiger vorkommt, dass sie arbeiten, obwohl sie sich krank fühlen. Zwölf Prozent arbeiten im Homeoffice häufig oder sehr häufig trotz Krankschreibung und 30 Prozent greifen im Homeoffice häufig oder sehr häufig zu Medikamenten, um arbeiten zu können.

Und dauerhafter, regelmäßiger Präsentismus erhöhe das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Störungen, betont Psychologe Hahnzog.

Präsentismus verhindern: Psychische Belastungen erkennen

Nach dem Arbeitsschutzgesetz sind Arbeitgeber verpflichtet, eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, wie Senner betont. Nach seiner Einschätzung hat das aber nur die Hälfte gemacht. Während bei körperlichen Gefahren relativ einfach Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden könnten wie Abstandshalter, sei das bei psychischen Belastungen schwieriger. Führungskräfte könnten aber lernen, wie sie mögliche psychische Störungen erkennen und wie sie dann Mitarbeitende adäquat darauf ansprechen und Unterstützung anbieten können.

Dem Trend folgend gibt es inzwischen unter anderem viele App-Angebote für Menschen mit psychischen Belastungen, sagt Senner, der auch Mitglied im medizinischen Beirat von Wellster ist, einem Anbieter für digitale Gesundheitsplattformen. „Für Themen wie mentale Gesundheit am Arbeitsplatz gibt es Geld, da wird investiert.“

Digitale Angebote zur Prävention von Präsentismus

Ein Beispiel ist das 2021 gegründete Start-up Heyvie aus Karlsruhe, das Menschen mit Migräne helfen will. Marius Krämer und Hady Daboul wollen mit sogenanntem neurozentrischen Training den Betroffenen den Schmerz nehmen. „Die Technologie identifiziert Bereiche des Gehirns, die aufgrund von alten Mustern und Verletzungen nicht optimal funktionieren, und zielt darauf ab, Einschränkungen innerhalb kürzester Zeit loszuwerden“, erläutern die beiden.

Ein paar Übungen gibt es kostenlos in der App, darüber hinaus gibt es kostenpflichtige Programme. Bis März wurde die App getestet, seither hätten Hunderte sie schon genutzt, sagt Krämer. Anders als die Volkskrankheit Rückenschmerzen ist Migräne aus seiner Sicht noch stigmatisiert, führt eher zu Präsentismus. „Dabei kennt fast jeder Kopfschmerzen.“

Senner wiederum berät Nilo Health. Das Angebot sei für Unternehmen gedacht, die es Mitarbeitenden anbieten könnten. Für Patienten gebe es etwa auf der Seite helloeasy.de Angebote zur Onlinetherapie unter anderem bei Stress, Angst oder Schlafproblemen.

Die Verbraucherzentrale weist darauf hin, dass es keine einheitlichen Qualitätskriterien gebe. „Die meisten Apps in diesem schnelllebigen Markt sind zudem nicht wissenschaftlich auf ihren Nutzen hin untersucht.“ So könne es hilfreiche Apps geben – aber auch solche, die schlimmstenfalls etwa wegen falscher Messungen Schaden anrichten können. Ratsam sei, das Thema mit dem Hausarzt zu besprechen.

Der Markt wachse stark, sagt Chefarzt Senner. Die digitalen Angebote seien eine wichtige Hilfestellung und ermöglichten Betroffenen, sich ohne Scham oder andere Hindernisse Unterstützung zu suchen. „Die Digitalisierung im Gesundheitswesen erlaubt es, Therapien schneller und individueller allen Menschen zugänglich zu machen.“ Quelle: TK, Dekra, dpa