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Neun Fragen zum Impfen bei Multipler Sklerose

jungerMann sitzt in Rollstuhl, MFA klebt Pflaster nach Impfung auf seinen Oberarm
Impfungen gegen Grippe, Tetanus und Gürtelrose können auch bei Menschen mit Multipler Sklerose verabreicht werden. Doch worauf ist hierbei zu achten? | Bild: Prostock-studio / AdobeStock

Neue und teilweise hochwirksame krankheitsmodifizierende Arzneimittel (Disease-modifying Therapies; kurz: DMTs) helfen Menschen mit Multipler Sklerose (MS). Ihre Wirkung beruht darauf, das Immunsystem der Betroffenen stark zu unterdrücken. Für diese Personengruppen ist dann ein zuverlässiger Impfschutz gegen Infektionskrankheiten, wie Grippe oder Hepatitis, besonders wichtig – nicht nur für MS-Patienten in Deutschland, sondern europaweit oder gar global.

Um einheitliche Impfempfehlungen für Menschen mit MS zu etablieren, hat eine Expertengruppe von ECTRIMS (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) und EAN (European Academy of Neurology) nun ein europäisches Konsenspapier zur Impfung von MS-Patienten erarbeitet. Wir stellen Ihnen die erarbeiteten Fragen und Antworten vor.

Zur Erinnerung: Was ist Multiple Sklerose?

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Gehirn, das Rückenmark und die Nervenfasern betrifft. Weltweit leben rund 2,8 Millionen Menschen mit der Autoimmunerkrankung, bei der das eigene Immunsystem die Ummantelung (Myelinscheiden) der Nervenbahnen (Axone) angreift und beschädigt. 

Botschaften, die über die Nerven transportiert werden, kommen in der Folge immer langsamer und ohne medizinische Behandlung gar nicht mehr an. 

Diese Schädigungen äußern sich dann häufig in Symptomen wie Sehstörungen, Taubheitsgefühlen und Lähmungserscheinungen. Doch gibt es nicht „das eine“ typische Krankheitsbild. Symptome und Anzeichen können komplett unterschiedlich und für Außenstehende nicht direkt zu erkennen sein. MS wird daher auch als die Krankheit der 1.000 Gesichter bezeichnet. 

Häufig sind Koordinationsprobleme, Sehstörungen oder Lähmungen. Aber auch Gefühlsstörungen der Haut, die sich als Kribbeln, Missempfindungen oder Taubheitsgefühl äußern, sind möglich. Viele berichten von „Fatigue“, einem Zustand massiver, oftmals unerklärlicher und vor allem wiederkehrender Erschöpfung. /cn

Frage 1: Triggern Impfungen MS-Schübe?

Die Ergebnisse von 15 Studien deuten darauf hin, dass gängige Impfstoffe, wie gegen Grippe, Hepatitis B oder Tetanus, eine MS-Erkrankung nicht verschlimmern. In einer dieser Studien hatten Wissenschaftler das Risiko für eine Verschlechterung von MS nach jeglicher Impfung untersucht, die anderen 14 Studien gingen auf Hepatitis B-, Tetanus-, Influenza-, BCG- (Tuberkulose), Varizella-, FSME-, Tollwut- und Gelbfieberimpfungen ein.

Einer 2001 im „New England Journal of Medicine“´Vaccinations and the risk of relapse in multiple sclerosis. Vaccines in Multiple Sclerosis Study Group´  veröffentlichten Studie zufolge lag das relative Risiko für einen Schub zwei Monate nach jeglicher Impfung bei 0,71: Das Schubrisiko war damit 29 Prozent geringer als im Kontrollzeitraum (keine Impfung).

Die Experten hinter dem Konsensuspapier sind nach aktuellem Stand der Wissenschaft überzeugt, dass

  • Impfungen bei MS-Patienten nicht das Schubrisiko erhöhen,
  • Impfungen die Behinderung nicht fortschreiten lassen,
  • bei MS-Patienten der Nutzen einer Impfung deren Risiken überwiegt
  • und inaktivierte Impfstoffe bei MS-Patienten, die DMTs erhalten, sicher sind.

Frage 2: Wie gut schützen Impfungen MS-Patienten?

DMTs unterdrücken die Immunantwort bei den Behandelten – kann eine Impfung dann überhaupt wirken? In der Tat verhält es sich so, dass bestimmte MS-Arzneimittel die Impfantwort reduzieren. Bei manchen Wirkstoffen ist sodann auch der Impfschutz verringert. In anderen Fällen wirkt sich das auf den Impfschutz jedoch nicht aus. 

  • Bei MS-Patienten ohne DMTs und mit Interferon oder Glatirameracetat schützt eine Impfung vergleichbar gut wie bei gesunden Menschen.
  • Dimethylfumarat, Teriflunomid und Natalizumab können die Antikörperantwort nach einer Impfung verringern, doch der Impfschutz bleibt erhalten.
  • CD20-Antikörper wie Ocrelizumab und Ofatumumab sowie Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren wie Fingolimod, Ozanimod, Ponesimod und Siponimod reduzieren die Antikörperantwort auf eine Schutzimpfung – auch der Impfschutz ist geringer. Darüber sollten die Patienten informiert werden, um andere Infektionsschutzstrategien anzuwenden.
  • Wenige Daten gibt es zu Alemtuzumab und Cladribin, doch sei mit einem geringeren Impfschutz zu rechnen.

Frage 3: Wie sehen die Impfstrategien für MS-Patienten konkret aus?

Die Experten empfehlen, den Impfstatus aller MS-Patienten – insbesondere vor Beginn einer immunsupprimierenden Therapie – zu überprüfen. Angeratene Impfungen sollten am besten schon bei Diagnosestellung oder in frühen Krankheitsstadien verabreicht werden, um den Start einer MS-Behandlung nicht zu verzögern. 

Eine Bestimmung des Impftiters empfehlen die Experten ein bis zwei Monate nach Impfung sowie nach Hepatitis-B-, Tetanus-, Masern-, Mumps- und Windpockenimpfung (mögliche Boosterimpfungen in Betracht ziehen, bei Hepatitis B mit der adjuvantierten Vakzine).

Frage 4: Ist ein Zeitabstand zwischen MS-Therapie und Impfung einzuhalten?

Prinzipiell dürfen MS-Patienten inaktivierte Impfstoffe jederzeit – auch unter DMT – erhalten. Optimalerweise liegen für eine bestmögliche Impfantwort jedoch zwischen der letzten Impfung und dem Behandlungsbeginn zwei Wochen. Bei Lebendimpfstoffen sollte nach Impfung vier Wochen bis zum Start einer DMT gewartet werden – bei Ocrelizumab und Alemtuzumab sogar sechs Wochen. 

Bei Therapieende hängt der Zeitpunkt der nächstmöglichen Lebendimpfung vom abgesetzten MS-Arzneimittel ab. Nach Hochdosis-Kortisongabe sollte ein Monat bis zur nächsten Lebendimpfung gewartet werden.

Gut zu wissen: Lebendimpfstoffe nicht für alle MS-Patienten

Ob Lebendimpfstoffe – zum Beispiel gegen Masern, Mumps, Röteln, Windpocken oder Gelbfieber – sicher verabreicht werden können, hängt von der MS-Therapie ab:  

  • MS-Patienten ohne DMT können Lebendimpfstoffe problemlos erhalten. So auch Patienten, die Interferone oder Glatirameracetat (Copaxone®) anwenden.
  • Unter Dimethylfumarat (Tecfidera®), Teriflunomid (Aubagio®), Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren – Fingolimod (Gilenya®), Ozanimod (Zeposia®), Ponesimod (Ponvory®), Siponimod (Mayzent®) –, Natalizumab (Tysabri®), Cladribin (Mavenclad®), Alemtuzumab (Lemtrada®) und CD20-Antikörpern – Ocrelizumab (Ocrevus®), Ofatumumab (Kesimpta®) – sollte auf eine Impfung mit Lebendimpfstoffen verzichtet werden. Der Grund: Man will Impfstoff-bezogene Infektionen vermeiden.
  • Wenn der Masern- oder Windpockenschutz fehlt, sollten MS-Patienten nach möglichem Kontakt einen Arzt aufsuchen und eine Postexpositionsprophylaxe in Erwägung ziehen.

Totimpfstoffe dürfen MS-Patienten jederzeit nach dem Absetzen erhalten, am besten allerdings auch erst, wenn der Immunstatus des Patienten eine maximale Impfantwort verspricht.

Bei einem aktuellen Schub sollte mit einer Impfung gewartet werden, bis der Patient wieder klinisch stabil ist.

Frage 5: Welche Impfungen sollten Menschen mit MS erhalten?

Generell gelten die allgemeinen Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO). MS-Patienten sollten sich jährlich vor Grippe schützen und ihren Pneumokokken-Impfschutz aktuell halten. 

Unabhängig vom Alter ist bei einer geplanten Behandlung mit Alemtuzumab, Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren, Cladribin oder CD20-Antikörpern eine HPV-Impfung (humanes Papillomavirus) ratsam. 

Für ab 18-Jährige ist eine Gürtelroseimpfung (Shingrix®) empfehlenswert, wenn sie stark immunsupprimierende Arzneimittel erhalten, die eine Herpesinfektion begünstigen.

Frage 6: Welche Impfungen sind für Kinder mit MS empfehlenswert?

Auch für Kinder mit Multipler Sklerose gelten die allgemeinen Impfempfehlungen der STIKO für die gesunde Alterskohorte. 

Vor Start einer MS-Behandlung sollten Ärzte – wie auch bei erwachsenen Patienten – den Impfstatus des Kindes prüfen und bestehende Impflücken möglichst schließen.

Frage 7: Welche Impfungen für Schwangere mit MS?

Für schwangere Frauen mit MS gelten dieselben Impfempfehlungen wie für Schwangere ohne MS. Ziel ist es, Mutter und Kind vor möglichen Infektionen zu schützen. Aus diesem Grund sollten sich Schwangere 

  • gegen Grippe (zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft und zu Beginn der Grippesaison),
  • Keuchhusten,
  • Tetanus und
  • Diphtherie (zwischen der 20. und 36. Schwangerschaftswoche) impfen lassen.

Frage 8: Welche Impfungen sollten ältere Menschen mit MS erhalten?

Für ältere Menschen mit Multipler Sklerose gelten die allgemeinen Impfempfehlungen für die ältere Bevölkerung – damit liegt das Augenmerk auf der jährlichen Grippeschutzimpfung. Die STIKO rät bei Menschen ab 60 Jahren zu einem Hochdosisgrippeimpfstoff

Außerdem sollten ältere Menschen ihren Pneumokokken- und Gürtelroseimpfschutz (Shingrix®) aktuell halten.

Frage 9: Welche Reiseimpfungen sind für MS-Patienten sicher und empfehlenswert?

Für MS-Patienten mit oder ohne DMT gelten die Reiseimpfempfehlungen wie für gesunde Menschen. Sie können sicher gegen 

  • Hepatitis A und B,
  • Tollwut,
  • Japanische Enzephalitis,
  • Meningokokken (tetravalent),
  • Cholera,
  • FSME,
  • Polio (IPV)
  • und Typhus (inaktiviert) geimpft werden.

Der Impfschutz richtet sich jeweils nach Reiseziel und Expositionsrisiko. Unter immunsupprimierender Behandlung dürfen die Lebendimpfstoffe gegen Gelbfieber, Dengue-Fieber, Windpocken, Masern, Mumps, Röteln und Typhus (oral) allerdings nicht verabreicht werden.

Impfungen sollten in der Reiseplanung berücksichtigt werden und möglichst vor Reiseantritt (zwei bis drei Monate zuvor) abgeschlossen sein. Auch sollte ausreichend Zeit für möglicherweise erforderliche Boosterimpfungen eingeplant werden, wie beispielsweise bei Hepatitis A und B, Tollwut, Tetanus und Polio.