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Bei welchen Erkrankungen ist Cannabis indiziert?

Dose mit Medizinalcannabis; im Hintergrund schreibt eine Arzt eine Verordnung
Die Wirksamkeit von Medizinalcannabis ist bei chronischen Schmerzen gut belegt. | Bild: Africa Studio / AdobeStock

Prinzipiell darf Cannabis jeder Patient bekommen, denn der Gesetzgeber verzichtet explizit auf eine spezielle Indikation. Voraussetzungen, dass Ärzte Cannabis verordnen dürfen, gibt es dennoch:

  • Es handelt sich um eine schwerwiegende Erkrankung, für die es keine anerkannte medizinische Leistung gibt oder bei der
  • anerkannten Therapie für den Patienten nicht infrage kommt, und
  • es besteht Aussicht, dass Cannabis die Beschwerden bessert.

Konkret heißt es in § 31 Absatz 6 SGB V:

„Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn

  1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung

a) nicht zur Verfügung steht oder

b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann.

2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symp­tome besteht.“

SGB V § 31 Absatz 6

Bei diesen schwerwiegenden Erkrankungen hat sich Cannabis bewährt

Laut dem Abschlussbericht der von April 2017 bis März 2022 dauernden nichtinterventionellen Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln (gefordert in § 31 Absatz 6 SGB V) erhielten Patienten (16.809) Cannabisarzneimittel am häufigsten zur Behandlung von

  • chronischen Schmerzen (76,4 %),
  • Tumorerkrankungen (14,5 %),
  • Spastik (9,6 %),
  • Multipler Sklerose (5,9 %),
  • Anorexie/Wasting (5,1 %),
  • Depression (2,8 %),
  • Übelkeit/Erbrechen (2,2 %),
  • Migräne (2,0 %).

Weitere Erkrankungen/Symptomatiken von Cannabispatienten umfassten 

Die meisten Patienten hatten Dronabinol (62,2 %) erhalten, gefolgt von Blüten (16,5 %), Extrakten (13 %) und Sativex® (8 %).

Zur Erinnerung: So wirkt Cannabis

Zu den Hauptinhaltsstoffen der Hanfpflanze (Cannabis sativa) gehören Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC, internationaler Freiname: Dronabinol) sowie das nicht psychoaktive Cannabidiol (CBD). Beide Substanzen sind lipophil. THC fungiert als Partialagonist an den G-Protein-gekoppelten Cannabinoid(CB)-Rezeptoren CB1 und CB2. Daneben gibt es mit den Orphan-G-Protein-gekoppelten Rezeptoren GPR18 und GPR55 weitere Cannabinoid-Zielstrukturen. 

THC vermittelt seine psychoaktiven Wirkungen über zentrale CB1-Rezeptoren im Gehirn. Dieser kommen vor allem im Cortex und Hippocampus vor, also in Hirnarealen, die für die Kognition bedeutend sind. Daneben finden sich CB1-Rezeptoren auch in den Basalganglien sowie dem Cerebellum. CB2 wird hauptsächlich auf Immunzellen exprimiert und in Mandeln und Milz. Im ZNS finden sich CB2 auf Mikrogliazellen. 

CB2 ist an inflammatorischen Prozessen beteiligt, weswegen Agonisten an CB2 auch zur Behandlung von Atherosklerose, Osteoporose, Schmerzen und entzündlichen Erkrankungen diskutiert wurden.

Cannabis zeigt gute Ergebnisse in der Behandlung von chronischen Schmerzen

Am besten ist Cannabis zur Behandlung chronischer Schmerzen erforscht (acht systematische Reviews mit 48 Studien): Die Patienten in diesen Studien – neuropathische Schmerzen infolge einer Schädigung des peripheren Nervensystems, chronische Schmerzen bei Multipler Sklerose (MS) sowie chronische Schmerzen in Zusammenhang mit rheumatischen Erkrankungen, muskuloskelettalen und Rückenschmerzen – hatten Cannabisarzneimittel zusätzlich zu Opioiden, Antikonvulsiva oder Antidepressiva erhalten, die Studien liefen Placebo-kontrolliert.

Ergebnis: Teilweise konnten die Patienten ihre Schmerzen subjektiv moderat reduzieren (≥ 30 %). Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung fasst die Ergebnisse der sogenannten CaPRis-StudieCannabis: Potenzial und Risiko. Eine wissenschaftliche Analyse  bei chronischen Schmerzen wie folgt zusammen: „Belegt ist die Wirksamkeit für neuropathische Schmerzen in Folge einer Schädigung des Nervensystems, für Schmerzen bei Multipler Sklerose (MS) sowie Schmerzen in Zusammenhang mit rheumatischen Erkrankungen, wozu auch muskuloskelettale- und Rückenschmerzen gehören“, die Effekte seien aber „selten“ groß gewesen.

Erst 2023 veröffentlichten Wissenschaftler von Cochrane außerdem einen Review zur Wirksamkeit von Cannabis-basierten Arzneimitteln und medizinischem Cannabis bei tumorbedingten Schmerzen. Das Ergebnis mutet ernüchternd an: „Cannabis-basierte Medikamente können Krebsschmerzen, die nicht auf morphinähnliche Medikamente ansprechen, nicht lindern“, erklärten die Cochrane-Autoren 2023.

Cannabis: Studienlage bei Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit zu gering

Weniger Daten gibt es bei den Indikationen Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit. Die Wissenschaftler hinter der CaPRis-Studie konnten dafür drei Übersichtsarbeiten auswerten, darin ging es um Tumorpatienten mit Erbrechen sowie um die Gewichtszunahme bei HIV- und Palliativpatienten: Bei Chemotherapie-induziertem Erbrechen wirkten Cannabisarzneimittel signifikant besser als ältere Antiemetika (keine Neurokinin-1-Rezeptorantagonisten). Die Wissenschaftler wollten jedoch pflanzliches Cannabis aufgrund der „eingeschränkten Datenlage und Sicherheitsbedenken“ am Ende nicht für Chemotherapie-induziertes Erbrechen empfehlen.

Positive „leichte“ Effekte ließen sich auch hinsichtlich Appetitsteigerung bei Palliativpatienten und Gewichtszunahme bei HIV- und Aidspatienten beobachten, wobei bei HIV-Patienten Megestrol (synthetisches Progesteronderivat) bei der Gewichtszunahme den Cannabinoiden überlegen war.

Wirksamkeit von Cannabis bei Betroffenen mit Spastik?

Keine Studie konnte bislang objektiv positive Effekte von Cannabis auf eine Spastizität belegen. Es gibt Hinweise – aus Eigenberichten von MS-Patienten und Menschen mit Rückenmarksverletzungen –, dass Cannabisarzneimittel eine MS-bedingte Spastizität oder paraplegieassoziierte schmerzhafte Spastizität reduzieren. Eine Studie, die dies untersucht hatte, wurde 2014 veröffentlicht. Und auch hier betonten die Wissenschaftler die Subjektivität der Ergebnisse.

Oraler Cannabisextrakt sei „wirksam“ und Nabiximols (Sativex®) und Tetrahydrocannabinol seien „wahrscheinlich wirksam“, um die vom Patienten erfasste Spastizität zu reduzieren.

Wie gut hilft Cannabis bei psychischen Störungen?

Nur wenige Studien gibt es bislang zu psychischen Störungen – ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung), Anorexia nervosa (Magersucht), Demenz, therapieresistentes Tourette-Syndrom, posttraumatische Belastungsstörung oder Entzug bei Suchterkrankungen. 

Die Cannabinoide wurden in der Regel in Kombination mit Psychopharmaka, teilweise auch mit Psychotherapie untersucht. Einzelne Symptome besserten sich, eine volle Remission ließ sich nicht beobachten.

Schwache Datenlage von Cannabis bei Morbus Crohn oder Parkinson

Lediglich einzelne Studien existieren derzeit auch zum Einsatz von Cannabis bei gastrointestinalen Störungen, und es wurden keine „substanziellen Verbesserungen bei Morbus Crohn, Reizdarmsyndrom“ gefunden, heißt es zu den Ergebnissen der CaPris-Studie. Gleiches gilt für Chorea Huntington, Morbus Parkinson, Dyskinesien sowie Tremor oder Blasenschwäche bei MS. 

Wie auch bei psychischen Störungen seien weitere randomisierte, kontrollierte Studien mit größeren Patientenzahlen vonnöten, um anhand einer besseren Datenlage die Wirksamkeit von Cannabinoiden auf die einzelnen Erkrankungen einzuschätzen.

Bei akuter Migräne hilft THC in Kombination mit CBD

Ganz neu ist eine Arbeit zur Wirksamkeit von Cannabis bei Migräne. Die Ergebnisse wurden 2024 auf der Jahrestagung der American Academy of Neurology in Denver präsentiert, sie liegen derzeit als „Preprint“ vor. 

92 Migränepatienten (mittleres Alter: 41 Jahre) nahmen an der doppelblinden, placebokontrollierten Studie teil. Die Teilnehmenden wurden auf vier Gruppen randomisiert und sollten zu Beginn einer Migräneattacke eine Kapsel inhalieren. Diese enthielt für die erste Studiengruppe 6 % THC (Tetrahydrocannabinol) und 11 % CBD (Cannabidiol). Die zweite Gruppe bekam eine Kapsel mit 11 % CBD, die dritte Gruppe lediglich 6 % THC und die vierte Gruppe Placebokapseln. 

Die Studienautoren interessierten sich für eine Schmerzreduktion nach zwei Stunden. Das berichteten 67,2 % der Patienten mit der THC/CBD-Kombination, verglichen mit nur 46,6 % in der Placebogruppe. Ging es um die völlige Schmerzfreiheit nach zwei Stunden, schnitt THC/CBD ebenfalls besser ab:

  • 34,5 % der Patienten mit der THC/CBD-Kombination, 
  • 27,9 % der Migräniker in der reinen THC-Gruppe, 
  • 22,8 % der Migränepatienten mit CBD und 
  • lediglich 15,5 % unter Placebo. 

Damit war die Kombination aus 6 % THC + 11 % CBD bei akuter Migräne einer Placebotherapie überlegen – sie zeigte eine über 24 und 48 Stunden anhaltende positive Wirkung.

Cannabis: Welche Nebenwirkungen sind möglich?

Bei Cannabis sind auch potenzielle unerwünschte Wirkungen immer ein Thema: Am häufigsten kommt es durch Cannabis-Einwirkung – und hier THC-bedingt – zu Schwindel, Sedierung, Schläfrigkeit und Benommenheit. Cannabis kann die Aufmerksamkeit einschränken, Übelkeit und Erbrechen bei Patienten verursachen und die Stimmung beeinträchtigen. Kardiale Krisen, Selbstmord oder Psychosen sind schwerwiegende Nebenwirkungen, die einzeln berichtet wurden.

Längere Anwendung von Cannabis kann zur Gewöhnung führen, wobei die Abhängigkeit weniger stark ausgeprägt ist als bei anderen Drogen. Da das Endocannabinoidsystem an der Hirnentwicklung beteiligt ist, sind Heranwachsende und junge Erwachsene mit hohem Cannabiskonsum besonders gefährdet für psychische und kognitive Störungen. Allerdings scheinen die Gefahren für eine Depression (oder Suizidalität) moderat zu sein. 

CBD hingegen ist besser verträglich, wobei zur Sicherheit von Cannabidiol keine Langzeitstudien vorliegen. Quellen:
- Sozialgesetzbuch V, Absatz 6, § 31; www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__31.html
- BfArM: Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln,
www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bundesopiumstelle/Cannabis/Abschlussbericht_Begleiterhebung.pdf?__blob=publicationFile
- Whiting PF et al. Cannabinoids for medical use: A systematic review and meta-analysis. J Am Med Assoc 2015;313(24):2456-2473
- Deshpande A et al. Efficacy and adverse effects of medical marijuana for chronic noncancer pain: systematic review of randomized controlled trials. Can Fam Physician 2015;61:e372–381
- Fitzcharles MA et al. Efficacy, tolerability and safety of cannabinoids in chronic pain associated with rheumatic diseases (fibromyalgia syndrome, back pain, osteoarthritis,rheumatoidarthritis). Schmerz 2016;30:47-61
- Iskedjian Met al. Meta-analysis of cannabis based treatments for neuropathic and multiple sclerosis- related pain. Curr Med Res Opin 2007;23(1):17–24
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- Martin-Sanchez E et al. Systematic review and metaanalysis of cannabis treatment for chronic pain. Pain Med 2009;10(8):1353–1368
- Mucke M et al. Cannabinoids in palliative care: systematic review and meta-analysis of efficacy, tolerability and safety. Schmerz 2016;30:25-36
- Petzke F et al. Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabinoiden bei neuropathischen Schmerzsyndromen – Systematische Übersichtsarbeit von randomisierten, kontrollierten Studien. Schmerz 2016;30:62–88
- Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Ergebnisse der CaPRis-Studie (Cannabis: Potenzial und Risiko. Eine wissenschaftliche Analyse); www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Broschuere/BMG_CaPris_A5_Info_web.pdf
- Häuser Winfried et al. Cannabis‐basierte Medikamente und medizinisches Cannabis für Erwachsene mit Schmerzen aufgrund einer Krebserkrankung, Cochrane Database of Systematic Reviews doi/10.1002/14651858.CD014915.pub2/full/de
- Hoch E et.al. Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln: Ergebnisse der CaPRis-Studie;
www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/BfArM/Publikationen/Bundesgesundheitsblatt/2019-07Hoch_Friemel.pdf?__blob=publicationFile
- Tafelski S et al. Efficacy, tolerability and safety of cannabinoids for chemotherapy-induced nausea and vomiting - a systematic review of systematic reviews. Schmerz 2016;30(1):14-24
- Koppel BS et al. Systematic review: efficacy and safety of medical marijuana in selected neurologic disorders – report of the guideline development subcommittee of the American academy of neurology. Baillieres Clin Neurol 214;82(17):1556–1563
- Schuster N et.al.: Vaporized Cannabis versus Placebo for Acute Migraine: A Randomized Controlled Trial, www.medrxiv.org/content/10.1101/2024.02.16.24302843v1
- Müller Ch E. Fortschritte in der Cannabis-Forschung aus pharmazeutisch-chemischer Sicht, Bundesgesundheitsbl 2019;62:818–824
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